Schattengott
Haus mit grünen Fensterläden. Die aus
Natursteinen gebaute Treppe zur Eingangstür hatte kaum mehr gerade Stufen, von
einer hölzernen Bank im Garten blätterte die ehemals rote Farbe. Sabina
kontrollierte noch mal die Hausnummer. Ja, sie war richtig. Sie klopfte an.
Nichts. Sie öffnete die Tür einen Spalt weit und rief ins Haus. Immer noch
nichts. Als sie schon wieder gehen wollte, hörte sie aus der Kirche das Tönen
einer Orgel. Sie schloss die Tür wieder und folgte den Klängen.
Vorbei an einem schön herausgeputzten Bündnerhaus ging sie zum
Friedhofstor und sah die offene Kirchentür. Behutsam trat sie ein und lauschte.
Das hölzerne Podest der Mathoner Orgel war irgendwann mit viel Farbe und wenig
Kunstfertigkeit bemalt worden. So recht wollten sich die opulenten Verzierungen
über der Kirchtür nicht in den schlichten, von Holz und weissen Wänden
bestimmten Stil der Dorfkirche einfügen. Als die Harmonien verklangen und sich
für einen Moment Stille ausbreitete, klopfte Sabina an die Tür und zeigte mit
einem «’tschuldigung» an, dass sie den Menschen zu sprechen wünsche, der da
Orgel gespielt hatte. Sie ging unter dem Podest hindurch und drehte sich zur
Orgel hin. Ein grauhaariger Mann im schwarzen Anzug sass an den Manualen und
blickte sie aus tiefschwarzen Augen an.
«Ja, was isch?», fragte er.
«Sind Sie Herr Camenisch, Pfarrer Camenisch?»
«Ja, noch immer bin ich das. Auch wenn ich nicht mehr predige.»
«Ich bin von der Polizei in Chur und würde Ihnen gerne ein paar
Fragen stellen. Geht das?»
Camenisch stieg vorsichtig die leiterartige Treppe vom Orgelpodest
hinab und begrüsste Sabina mit einem festen, schwieligen Handschlag.
«Von Chur kommt man jetzt schon her», sagte er.
«Wenn es nötig ist, sind wir im ganzen Kanton», erwiderte Sabina.
«Soso», sagte er und dann nach einer kleinen Pause: «Ja?»
Sabina wusste nicht recht, wie sie den Pfarrer einschätzen sollte.
Einerseits wirkte er alt und ein wenig gebrechlich, andererseits schien er
alles andere als greis zu sein. Er schloss die Kirchtür hinter ihr und wies ihr
mit einer Geste den Weg zum Friedhofstor und von dort zu seinem Haus. Zum
Brunnen hindeutend, in dessen äussere Beckenwand die Jahreszahl 1936
eingemeisselt war, sagte er: «Damals war ich fünf Jahre alt.»
Sie nahmen die Stufen zum Haus und betraten einen dunklen Windfang
mit steinernem Boden. Durch eine vom Holzwurm zerfressene Tür kamen sie in eine
Stube. Es roch ein wenig modrig, das Kanapee hatte sicher fünfzig Jahre auf dem
Buckel. Camenisch verschwand kurz und brachte eine Mineralwasserflasche und
zwei leidlich gespülte Gläser, die er ohne Kommentar auf dem Tisch abstellte.
«So, was wollen Sie?»
«Sie haben vielleicht mitbekommen, dass drei Frauen aus dem Schams
verschwunden sind. Eine am Freitag vor Palmsonntag und zwei an Ostern.»
«Ja», sagte er.
«Die drei sind alle von Ihnen konfirmiert worden. Und sie waren auch
in letzter Zeit religiös engagiert.»
«Was man so religiös nennt. Mitternachtsgottesdienste an heidnischen
Kultplätzen. Das heilige Abendmahl ausserhalb der Kirche. Als wären wir bei den
Wilden.»
«Darf ich fragen, woher Sie von diesen Feiern wissen?»
«Wenn man über vierzig Jahre lang hier Pfarrer ist, kriegt man schon
ein bisschen was mit. Die Leute reden halt über diesen Unsinn.»
«Sie halten wohl nichts von solchen Ritualen in der Natur?»
«Gottesdienst ist in der Kirche. Wenn der Pfarrer predigt und die
Gemeinde singt. Wer weiss, was die da machen bei ihren Jesusorgien.»
«Ach so ist das. Sie meinen …»
«Ich meine, dass das nichts mit dem Heiland Christus zu tun hat und
dass man ein solches Treiben, dass man das … ausmerzen sollte.»
Sabina brauchte daraufhin erst mal einen Schluck Wasser. Fragend sah
sie Camenisch an, bevor sie sich einschenkte.
«Ich hab’s nicht für die Hühner hingestellt», sagte der Pfarrer.
Sie trank und überlegte, wie sie diesen sturen Bündnerschädel
knacken konnte. Sie wählte den Konfrontationskurs.
«Und Sie würden es gut finden, wenn man solche Gottesdienste
verbieten würde?»
«Ja, so etwas ist dem Herrn ein Graus.»
So was wie du auch, dachte Sabina und fuhr fort: «Was ist denn an
Gottesdiensten unter dem Sternenhimmel so schlimm?»
«Dass es nicht nur um geistliche Inhalte geht. Dass Männlein und
Weiblein sich da aneinander reiben. Nackend.»
Sabina lachte.
«Würden Sie wohl auch am liebsten gleich mittun, was?», sagte
Camenisch
Weitere Kostenlose Bücher