Schattengott
kommen, und schloss sich zwei Paaren an, die das Haus
verliessen. Der Türsteher nickte ihr schweigend zu – er schöpfte
offensichtlich keinen Verdacht. Draussen wartete sie, bis ein Auto durch das
eiserne Tor fuhr, und rannte wie eine Katze auf der Flucht auf die Strasse.
Ohne sich umzudrehen, lief sie die ersten hundert Meter. Dann verschnaufte sie
erst einmal und schüttelte sich. Sie hatte das Gefühl, gerade noch aus einer
ernsteren Sache herausgekommen zu sein.
3
Das Heiligtum war festlich illuminiert. An den Wänden loderten
Fackeln. Auf dem Felsvorsprung an der Rückwand stand ein Bild. Es zeigte einen
jungen Mann mit spitzer Mütze, der auf einem Stier kniete. Mit der linken Hand
riss er den Kopf des Stiers nach hinten, mit der rechten tötete er ihn durch
einen Dolchstoss. Der Blick des Jünglings war vom Stier abgewandt, und sein
Umhang war aufgebauscht, sodass die Innenseite zu sehen war. Sie zeigte einen
Sternenhimmel. Vor dem Bild stand ein silberner Kelch, davor lag ein Dolch. In
der Mitte des Heiligtums ruhte still und schwer der Opferaltar aus Stein.
Daneben sassen zwei Messdiener, die unablässig dieselben lateinischen Worte
wiederholten: «Victima praeparata est. Taurum sacrificabimus in septem
gradibus. In septem locis. In septem annis.»
Die Kultgemeinde stimmte ein. Sieben Männer nahmen an dem Ritual
teil. Drei sassen zur Linken, vier zur Rechten des Mittelgangs. Alle trugen
schwarze Umhänge und rezitierten in gleichförmiger Wiederholung die
lateinischen Worte. Als sich die Gemeinde eingependelt hatte, ertönte ein Gong.
Über den Mittelgang verliessen die Messdiener den Raum. Der Singsang ebbte auf
und ab. Schliesslich ertönten zwei weitere Gongschläge. Mit dem dritten Schlag
betrat der Hohepriester das Heiligtum. Er trug eine rote Mütze in der Art, wie
Bischöfe sie tragen. Auch sein langes Gewand war rot. In der Hand hielt er
einen zeremoniellen Hirtenstab. Hinter ihm trug ein Mann mit schwarzer Maske
das narkotisierte Opfer auf den Armen. Eine junge Christin, geboren im Zeichen
des Stiers. Nackt und rein. Er legte sie auf den Altar und verliess das
Heiligtum wieder. Der Gesang schwoll an.
Die Messdiener kehrten zurück und nahmen ihren Platz rechts und
links des Opferaltars ein. «Ich weihe dich im Zeichen des Raben», sprach der
Hohepriester und liess mit dem Rücken zur Gemeinde in weiten Kreisen Weihrauch
über der Stirn der Frau kreisen. Schliesslich hob er die Hände. Das Singen
wurde leiser, bis es zu einem monotonen Summen verebbte. Der Hohepriester
durchbrach es mit den Worten: «Wir weihen dieses Opfer dem Untergang des
Christentums und einer Neuordnung der universellen Macht. Aus dem Felsen
geboren, den Kosmos beherrschend, soll ER unser Meister sein.
Sieben Stufen lass uns erklimmen, sieben Schleier durchschreiten, bis wir eins
sind mit IHM .
So tretet nun zusammen im Zeichen des Raben, die ihr die erste Weihe empfangt.»
Die sieben Männer formierten sich in einem Halbkreis um die
aufgebahrte Frau. Einer der Messdiener schritt mit dem Kelch zum Fussende des
Altars. Der andere beugte sich über die Frau und schob ihren willenlosen Körper
so weit nach vorne, dass ihr Unterleib an der vorderen Kante lag. Der Hohepriester
kniete vor dem Altar nieder und beschrieb mit dem silbernen Dolch ein Zeichen
in der Luft. Dann vollführte er mehrere tiefe Schnitte. Blut ergoss sich
schwallartig in den Kelch. Als er bis zum Rand gefüllt war, schoben die
Messdiener das Opfer zurück und liessen es ausbluten. Vom Altar floss das Blut
auf den Boden und bahnte sich in roten Rinnsalen einen Weg über den kalten
Stein.
Die sieben Männer legten ihre Umhänge ab und knieten sich mit
nacktem Oberkörper nieder. Der Hohepriester griff in den Kelch und beträufelte
einen nach dem anderen mit dem Blut der Frau. «Nimm hin die Weihe im Zeichen
des Raben und erklimme die erste Stufe.»
Einer der Messdiener trat zu der Gruppe und brandmarkte jeden der
Männer mit einem heissen Eisensiegel in die Brust. Sie stöhnten vor Schmerz,
einer schrie laut auf. Und doch liessen sie es bereitwillig, ja geradezu gierig
über sich ergehen. Dann nahmen sie wieder ihre Plätze zur Rechten und Linken
des Mittelgangs ein. Sie trugen jetzt das Zeichen des Raben auf der Brust –
die erste Stufe der Initiation.
Der Mann mit der schwarzen Maske erschien und trug das Opfer aus dem
Raum. Singsang erfüllte wieder den Raum. Wurde lauter, wurde leiser, schwoll
an, ebbte wieder ab. Nach einer Weile ertönten von
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