Schattengott
schweigend zur Kenntnis.
Hastig zog sie sich an. Sie flog fast die Treppe hinunter, legte
vierhundert Franken auf die Rezeptionstheke und verliess das Hotel.
«Kein Frühstück?», rief ihr der Portier nach, doch Sabina war schon
bei ihrem Wagen. Sie raste zur Autobahn und kümmerte sich nicht im Geringsten
um ihre Geschwindigkeit. Fast hätte sie in ihrer Aufregung die Autobahnauffahrt
verpasst; erst in letzter Sekunde quetschte sie sich unter dem Hupen des
aufgebrachten Fahrers vor einen Lkw. Den Walensee beachtete sie kaum. Sie
bereitete sich innerlich auf den Anblick der Leichen vor. Und darauf, was sie
den Eltern und Partnern der Frauen sagen sollte.
Ihr Handy zeigte eine Nachricht auf der Mobilbox an. Sie wählte mit
einer Hand die Nummer und hörte eine Nachricht von Bühler ab, von gestern
Abend, neunzehn Uhr dreiundzwanzig. Er habe versucht, sich noch einmal in die
Situation zu versetzen, als er die Schmuckstücke angefertigt hatte. Und er
könne sich zumindest an etwa zwanzig Worte erinnern, die er eingraviert oder
für die er Schablonen hergestellt hatte: Stier, Blut,
Himmelsleiter, Gottesmutter, Bank, Russland, Rabe, Soldat, Insel, Bräutigam,
Limes, Wasserkirche, Spital, Sonnenläufer, Perser, Löwe, Zauberberg, Vater. Die
letzten davon habe er ganz sicher in Schmuckstücke eingraviert.
Zauberberg konnte ein Hinweis auf Davos sein. Spital möglicherweise
der Arbeitsort eines Opfers. Aber das waren nur Hypothesen. Bühler musste
sofort noch einmal einbestellt werden. Sie versuchte, ihn zu erreichen. Nichts.
Sie versuchte, Heini zu erreichen. Nichts. Sie versuchte, Malfazi zu erreichen.
Nichts.
Nach knapp einer Stunde bog Sabina auf Höhe Thusis-Nord von der
Autobahn ab, liess Sils hinter sich und schoss die Schotterstrasse nach
Carschenna hoch.
Oben angekommen nahm sie die letzten Meter im Eilschritt. Und dann
sah sie es.
Ein Bild von bizarrer Anziehungskraft. Drei Frauen. Geopfert auf
einem Felsen. Katharina Jakobs, Iris Grenz und Maria Melchior. Das erkannte sie
auf den ersten Blick. Sie blieb oberhalb der Felsplatte stehen und hielt inne.
Konzentrier dich jetzt, sagte sie sich. Alles, alles, was du hier siehst und
fühlst, ist wichtig. Jedes Detail kann dich zur Lösung führen.
Von oben betrachtet, wirkten die Frauen wie drei Kruzifixe. Die
Körper lang gestreckt, die Arme zu beiden Seiten geöffnet. Um die Leichen herum
standen mehrere Polizisten. Die Spurensicherung hatte bereits aus allen
erdenklichen Perspektiven Fotos der Szenerie gemacht.
Sabina schloss ihre Jacke, unter der sie noch immer nur ihren BH trug, bis oben, trat zu den Kollegen und wünschte einen guten Morgen. In dem
Moment, als sie es sagte, bereute sie es bereits. An diesem Morgen war
überhaupt nichts gut. Nicht ihr dröhnender Schädel, nicht dieses Bild des
Grauens. Es würde eine Menge auf sie zukommen in den nächsten Tagen. Vorwürfe
und Fragen von Eltern, von der Presse. Diese Leichen, das war Sabina sofort
klar, würde der Kanton so leicht nicht verkraften. Es gab im Schnitt zwei Morde
pro Jahr in Graubünden. Noch nie hatte es ein Verbrechen gegeben, das solche
Züge trug.
Sie zog einen Schutzanzug an und ging langsam um die Leichen herum.
Mit wachem Auge prägte sie sich jede Einzelheit ein. Sie kniete nieder, besah
sich die Köpfe, den Rumpf, die Arme und Beine. Zwischen den Beinen entdeckte
sie furchtbare Wunden.
«Habt ihr hier schon was angefasst?», fragte sie den Leiter der
Spurensicherung.
«Nein», sagte Beeli, der ein erfahrener Polizist war und wusste, wie
wichtig der erste, unverfälschte Eindruck eines Tatorts war. «Aber mit dem
blossen Auge kann ich erkennen, dass die Frauen im Genitalbereich, wie soll ich
sagen, zerschnitten wurden.»
Sabina hielt sich die Hände vors Gesicht und musste würgen. Was für
entsetzliche Schmerzen mussten diese Frauen gehabt haben.
«Wo ist das Blut?», fragte sie.
Beeli hob die Schultern, um seine Ratlosigkeit auszudrücken.
«Also wurden sie vermutlich nicht hier getötet.»
«Wir müssen das alles untersuchen und auch von den Pfaden hierher
Spuren sichern», sagte Beeli.
«Was haben sie mit euch gemacht?», fragte Sabina die Frauen und
beugte sich über sie. «Wie haben sie dich gequält, Katharina? Wer hat dir das
angetan, Iris?» Sie sah einen Einstich in der Beuge des rechten Arms. Auch die
anderen Frauen hatten Einstichstellen an den Armen. «Was haben sie euch
gespritzt?»
Sie blieb lang bei ihnen. Ihre Emotionen konnte sie sonst meistens
aus dem
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