Schattengott
aussen drei weitere
Gongschläge.
Mit dem zweiten Opfer auf dem Arm schritt der Maskierte zum
Steinaltar. Der Hohepriester sprach wieder seine Formel und weihte die Frau,
diesmal im Zeichen des Bräutigams. Wieder öffnete er mit dem Dolch ihren Schoss
und liess das Blut in den Kelch rinnen. Die sieben Männer liessen sich mit dem
Blut besprenkeln und erhielten eine Brandmarkung mit einem anderen Siegel.
Noch ein drittes Mal wiederholte sich das Ritual. Über die Gläubigen
ergoss sich das Blut der dritten Frau. Sie empfingen die Weihe und wurden
erneut gebrandmarkt – diesmal im Zeichen des Soldaten. Nachdem der
Hohepriester den Raum verlassen und die Messdiener den Gesang mit drei
Gongschlägen beendet hatten, war die Zeremonie beendet. In drei Stufen
eingeweiht in die Riten des blutigen Kults verliessen die sieben Männer den
Raum. Keiner sprach ein Wort. Das Heiligtum war ein blutroter See, in dem sich
die Fackeln spiegelten. Es roch nach warmem, frischem Blut.
4
Kurt Gentner und seine Frau kamen jedes Jahr aus Deutschland ins
Schams, um in dieser malerischen Region Urlaub zu machen. In diesem Jahr hatten
sie sich den Mai ausgesucht. Wenn auf den Berghängen Tausende von Krokussen
blühten und die Gipfel noch teilweise mit Schnee bedeckt waren, hatte die
Gegend einen ganz besonderen Reiz. Zwar war die Natur noch gezeichnet von den
Strapazen des Winters, die aufblühenden Blumen aber liessen keinen Zweifel
dar-an, dass der Sommer bevorstand.
Es war der Tag von Christi Himmelfahrt, Auffahrt, wie die Bündner
dazu sagten, und die Eheleute hatten sich vorgenommen, in aller Frühe zu den
Felszeichnungen von Carschenna zu wandern. Dort, auf einem Hochplateau, das der
Viamala-Schlucht vorgelagert war, hatte ein Forstingenieur vor über vierzig
Jahren eine sensationelle Entdeckung gemacht: Auf zehn Felsplatten, die
teilweise unter Humus verborgen gewesen waren, fand er Felszeichnungen, die auf
einen frühzeitlichen Kultplatz hindeuteten. Die Felsen waren mit
labyrinthartigen Kreisen, Sonnendarstellungen und Tiermotiven verziert, die in
den Stein gehauen worden waren.
Jahrelang hatten die Gentners die Wanderung zu den Felsbildern
verschoben. Heute aber sollte es so weit sein, auch wenn der Nebel und die
nassfeuchte Luft keinen schönen Tag versprachen. Von ihrem Ferienort Mathon aus
fuhren sie durch die Viamala und stellten ihr Auto an der Kirche von Sils im
Domleschg ab. Gegen halb acht erreichten sie das Hochplateau mit der Ruine der
ehemaligen Burg Hohen Rätien. Hohen Rätien mit seiner Kapelle, seit
Jahrhunderten in Familienbesitz, war schon vor den Tagen des Christentums ein
Kultplatz gewesen. Hoch über dem Eingang zur Viamala-Schlucht gelegen, war es
ein geradezu magischer Ort. In der Schlucht hingen Nebelschwaden, zerzauste
Bäume bogen sich im Wind. Gentner und seine Frau zogen ihre Regenjacken an.
«Bis Crap Carschenna ist es noch etwa eine Stunde», sagte Gentner.
«Ich hoffe nur, dass es nicht regnet», sagte seine Frau und stapfte
missmutig weiter, «so eine Schnapsidee, bei diesem Wetter.»
Nach etwa einer Stunde erreichten sie das Crap. Etwas unterhalb
im Wald, so versprach es sein Buch, mussten die mythischen Felsen liegen. Er
stieg in den Wald hinab und rutschte auf einer glitschigen Felsplatte aus,
seine Frau schimpfte. Hinter den letzten Bäumen, zur Wiese hin, nahm er endlich
etwas wahr. Er dachte zunächst, andere Wanderer hätten sich womöglich auf die
Steinplatten gelegt. Doch es waren keine Wanderer.
Auf einer grossen Felsplatte lagen nebeneinander in einem Halbkreis
drei nackte Frauen. Ihre gespenstisch weissen Körper auf dem dunklen Felsen
wirkten wie ein Kunstwerk. Wie ein düsteres Gemälde aus einem Kabinett des
Grauens. Makellos. Von einzigartiger Schönheit. Und doch zutiefst abstossend.
Denn die Frauen waren tot.
«Weg, Kurt, weg!», schrie Gentners Frau und zerrte an seiner Jacke.
Doch er war unfähig, sich zu bewegen, und konnte den Blick nicht von den
Körpern lassen.
«Kurt!», hörte er die schrille Stimme
seiner Frau, die immer panischer wurde. Dann erst riss er sich von dem Anblick
fort und rannte ihr hinterher. Als er sie eingeholt hatte, rief er mit seinem
Handy die Polizei an. Ja, er sei sich sicher. Drei unbekleidete Frauenleichen
auf einem Felsen von Carschenna.
* * *
Sabina war gerade aufgestanden, als ihr Handy klingelte. Dass
man auch nie seine Ruhe hat, dachte sie und nahm ab. Es war ein Kollege von der
Regionalpolizei in Thusis. Sie nahm die Nachricht
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