Schattengott
es schlimme, furchtbare Verbrecher.»
Die Frauen erwiderten nichts. Als Zustimmung wertete Sabina das
Schweigen allerdings nicht. Wie eine Welle raste an diesem Samstag der Schock
über die Morde durch den Kanton. Nicht nur im Lebensmittelladen von Donat,
überall in der Schweiz sorgten die Medienberichte für Aufsehen und
hinterliessen die Menschen in einer seltsamen Katastrophenstimmung zwischen
Betroffenheit, Sensationslust und der beruhigenden Erkenntnis, dass das Unheil
an ihnen selbst und ihren Liebsten vorbeigegangen war.
Sabina setzte sich ins Auto und fuhr zu Fridolin Thaller. Er
empfing sie mit einem Grinsen, das vom Bruschghorn bis zum Gelbhorn reichte.
Ohne viele Umschweife kamen sie auf die Morde zu sprechen. Sosehr sich Fridolin
manchmal über die Engstirnigkeit seiner Landsleute ärgerte, so sehr schätzte er
das Bündnerland für seine friedfertige Unaufgeregtheit. Ein solcher Mord passe
einfach nicht hierher, sagte er. Sabina legte ihm ihre Theorie mit den christlichen
Feiertagen, dem Mondkalender und den astronomisch bedeutenden Tagen dar. Er
bestätigte, dass der Stier im Kontext des Mithraskults durchaus im
astrologischen Sinne zu verstehen sei. Es erschien ihm daher gut möglich, dass
die Mithrasmörder dem Stand des Mondes besondere Bedeutung zumassen. Für ihn
war aber auch etwas anderes klar.
«Wer auch immer diese Morde begangen hat – mit dem eigentlichen
Kult, wie er damals war, hat das nichts zu tun. Mithras dient hier als Kulisse
für etwas anderes, Dunkleres.»
«Gibt es im Mithraskult eine Verbindung zu Honig?», wollte Sabina
wissen.
«Honig?»
«Die Opfer waren alle mit einer Honigcreme einbalsamiert.»
«Honig galt in der Antike allgemein als ein Zeichen der Reinheit»,
sagte Fridolin, «die Einbalsamierung als Vorbereitung für die Opferung, das ist
durchaus denkbar.» Er sah Sabina ernst an. «Und die Frauen wurden wirklich
ausgeblutet?»
«Ja.»
«Unglaublich, sollte eine derartige Perversität im Namen des Mithras
vollführt worden sein. Das ist, wie wenn du im Namen Je-su …», er besann
sich, «… na ja, offenbar laden Religionen dazu ein, sie zu pervertieren.
Jeder Gott hat wohl seinen Schatten.»
Sabina stimmte schweigend zu. Ihr Handy piepte. Sie las eine
Nachricht, die sie kaum glauben konnte: Reifenprofil ist
identisch mit den Spuren vom Fundort. Gruss, Reto.
«Ich muss dich leider verlassen, Frido. Danke für deine Hilfe.»
Sabina steckte das Handy wieder ein. «Ach ja, eins noch: Was hast du denn für
eine Schuhgrösse?»
«Ich laufe meistens barfuss. Aber dreiundvierzig. Warum?»
«Nur so. Danke. Ciao.»
Sabina nahm die Kurven von Mathon hinab eindeutig zu schnell. Die
neue Nachricht hatte sie geradezu elektrisiert. Konnte das sein? Das
Reifenprofil von Rosenackers Defender sollte identisch mit den Reifenspuren am
Fundort sein? Sie musste unverzüglich die Spurensicherung auf den Wagen
ansetzen. Noch im Fahren rief sie Beeli an.
«Und du bist sicher, dass das identische Reifenprofile sind?»
«Absolut. Deswegen muss es nicht derselbe Wagen sein, aber das
Profil passt, also sind es zumindest die gleichen Reifen.»
«Dann müssen wir den Wagen noch heute beschlagnahmen und untersuchen
lassen. Ich besorge die Genehmigung.»
7
Am Samstagmorgen spürte Sabina immer noch ein Kratzen im Hals.
Sie gurgelte mit Salzwasser, um die Entzündung gleich im Keim zu ersticken.
Dann zog sie ihre Sporthose an und machte etwas lustlos den Sonnengruss. Ohne
etwas zu frühstücken, schaltete sie den Laptop ein. Sie wollte den Vormittag
nutzen, um die pharmakologischen Indizien näher zu beleuchten. Telefonisch nahm
sie mit dem Spital in Chur Kontakt auf, um in Erfahrung zu bringen, wie schwer
es war, an Morphium zu gelangen. Das Ergebnis war einigermassen ernüchternd.
Jeder Arzt, ja auch jeder Pfleger und jede Krankenschwester konnte mit der
entsprechenden kriminellen Energie Morphium abzweigen. Sogar im Internet gab es
Wege, das Schmerzmittel zu bestellen. Es schien unwahrscheinlich, dass sich aus
diesem Indiz eine heisse Spur entwickeln würde.
Sie ging in die Küche, machte sich einen Tee und rührte einen Löffel
Honig ein. Die Honigcreme, dachte sie und rief im Labor an. Laut der ersten
Analyse enthielt die Creme, mit der die Opfer einbalsamiert worden waren, eine
Mischung aus verschiedenen Inhaltsstoffen, die es unwahrscheinlich machte, dass
es sie fertig zu kaufen gab. Der Labormitarbeiter bat aber darum, die zweite
Untersuchung abzuwarten, und versicherte
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