Schattengott
liess
Masein hinter sich und fuhr durch Flerden, Urmein und Oberurmein. Nach dem Wald
öffnete sich die Weite der Bergwelt vor ihr. In grosszügigen Serpentinen kroch
ihr Auto den Berg hoch. Sie liess alle Fenster herunter und genoss die reine
Bergluft.
Etwas oberhalb des Pascuminer Sees stellte sie den Wagen ab. Sie
rannte die steilen Wiesen hinunter und sprang über die Heidelbeerbüsche. Am
Ufer riss sie sich die Kleider vom Leib und sprang mit einem Kopfsprung in das
um diese Jahreszeit eiskalte Wasser. Sie drehte ein paar Runden, ehe sie sich
am Ufer mit ihrem T-Shirt abtrocknete. Dieses erste Bad im noch kalten See war
immer einer der Höhepunkte ihrer Kindheit gewesen. Schnell zog sie sich wieder
an und ging zurück zum Auto.
6
Am nächsten Morgen wachte Sabina schon vor Sonnenaufgang auf.
Sie hatte Halsschmerzen; den Sprung ins kalte Wasser hatte ihr das Immunsystem
nicht verziehen. Ihre Yogaübungen liess sie ausfallen und schlich schlaftrunken
in die Küche. Tee wäre jetzt vermutlich das Richtige für meine Gesundheit,
dachte sie. Sie entschied sich für Kaffee.
Ihr neues Milchschäumgerät schickte die Milch drei Minuten lang im
Kreis herum. Sabina schöpfte den Schaum mit dem Löffel ab und malte mit der
Espressokanne eine braune Spirale auf die Schaumkrone.
Die Isländerin kam ihr in den Sinn. Den ganzen Tag lang Labyrinthe
in den Stein zu hauen war eine schöne, kontemplative Tätigkeit. Aber irgendwie
auch sehr eintönig.
Sie nahm ihren Kaffee mit und setzte sich an den Tisch in der Stube.
In der Zeitung stand ein Artikel über Holz, das bei bestimmten Mondständen
geschlagen wurde und dadurch von besserer Qualität sei. Der Mond, dachte Sabina
und suchte in ihrem Bücherregal nach dem Mondkalender, den sie zu Weihnachten
bekommen hatte.
Der Mond stand heute im Sternzeichen Krebs, es war ein Wassertag,
der besonders gut zum Giessen von Pflanzen geeignet war. Sabina blätterte ein
wenig im Kalender zurück und stellte fest, dass der Mond an dem Tag, an dem
Katharina Jakobs verschwunden war, im Sternzeichen Stier gestanden hatte. Iris
Grenz und Maria Melchior waren an Ostern verschwunden, dem höchsten
christlichen Fest. Die Morde fielen auf Christi Himmelfahrt, einen weiteren
christlichen Feiertag. Waren die Frauen an ganz bestimmten Tagen entführt
worden? An christlichen Festen oder wenn der Mond im Zeichen des Stiers stand?
Sabina blätterte zu weiteren Feiertagen und überprüfte, wann der
Mond wieder im Stier stehen würde. Sie kam auf vier weitere passende
Zeitpunkte: Pfingsten und Fronleichnam als christliche Feste. Die nächste
Mondfinsternis im Juni. Und den Tag der Mittsommernacht.
Sie rief Heini an. Er hielt den Ansatz für brauchbar.
«Das würde bedeuten, dass wir dem Täter zuvorkommen können. Wir
müssen ahnen, wo er das nächste Mal zuschlägt, und vor ihm am Ort des
Geschehens sein.»
«Wenn das so einfach wäre», stöhnte Sabina. «Treffen wir uns um
vierzehn Uhr im Polizeikommando? Ich muss vorher noch was erledigen.»
Sabina mochte Agi, die den kleinen Laden in Donat führte, sehr.
Immer freundlich, interessiert und doch nicht geschwätzig, war sie der
Mittelpunkt der dörflichen Gemeinschaft – und Sabinas Zeitungsbotin. Im
Lädali traf man sich, unterhielt sich, trank einen Kaffee. Auf der Theke lag
eine Ausgabe der Südostschweiz, die Schlagzeile bestand aus drei riesigen
Worten: « SEXUALMORD
AUF CARSCHENNA ».
«Ja», sagte Sabina gespielt neutral, als Agi ihr die Zeitung
hinhielt.
«Ist das nicht schrecklich? Hier bei uns. Ich kann das nicht
glauben.»
«Ich auch nicht, Agi. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen, wir sind
mitten in der Ermittlung.»
«Ja, und haben Sie die Täter schon?», mischte sich eine Frau aus dem
Dorf ein. «Das sind doch Ausländer, so was macht bei uns doch niemand.»
«Und woher wissen Sie das so genau?», fragte Sabina.
«Ich wohne seit sechzig Jahren hier», sagte die Frau. «Früher gab es
so was nicht. Aber seit die Muslime da sind und die Schweiz immer mehr
verrostet, seither gibt es so was.»
Eine andere Frau, die ihr Gemüse auf den Kassentisch legte, stimmte
nickend zu. «Wir haben Angst um unsere Tochter», sagte sie. «Sie ist so alt wie
das Mädchen aus Reischen. Bitte tun Sie was, Frau Lindemann. Man kann doch
solche Mörder nicht frei rumlaufen lassen.»
«Wir tun, was wir können», sagte Sabina, «aber hören Sie bitte auf,
alle Straftaten den Ausländern in die Schuhe zu schieben. Auch unter uns
Schweizern gibt
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