Schattengott
Tablett. Danach wiederholte sie die Prozedur
noch einmal. Diesmal blieben vier Stäbchen übrig. Insgesamt hatte sie so
siebzehn Stäbe auf dem Tablett ausgezählt. Die erste Zahl, gewonnen aus dem
dreifachen Auszählen der Stäbe, war also die Siebzehn. Sie notierte die Zahl.
Das Räucherstäbchen war schon zu einem Drittel abgebrannt. Auf dem
Tisch sammelte sich der feine graue Puder. Was für eine aufwendige Zählerei,
dachte sie. Doch sie wollte das Experiment mit dem nötigen Ernst zu Ende
bringen und versuchte, sich wieder ganz auf die Frage zu konzentrieren: Wie geht es mit den Morden weiter?
Erneut nahm sie alle neunundvierzig Stäbchen zusammen, teilte sie in
zwei verschieden grosse Haufen und zählte sie nach demselben Schema wie vorher
in drei Schritten aus. So kam sie nach und nach auf weitere sechs Zahlen:
dreizehn, einundzwanzig, einundzwanzig, fünfundzwanzig, einundzwanzig,
siebzehn.
Jetzt kam das Lexikon ins Spiel. Sie liess es mit geschlossenen
Augen dreimal über dem Rauch kreisen, dann öffnete sie es intuitiv. Vom ersten
Wort der aufgeschlagenen Doppelseite aus zählte sie siebzehn Einträge nach
vorne. Sie endete auf dem Wort Halbzeit . Sie notierte
es als erstes Orakelwort. Beim zweiten Mal zählte sie auf der aufgeschlagenen
Seite dreizehn Begriffe nach vorne und landete bei dem Wort Zahl. Das dritte Wort, das sie auszählte, war Gehen. Das
vierte nur, dann Heimat, kreuzen und geistreich .
Jetzt musste sie die ausgezählten Worte interpretieren.
Wie geht es mit den Morden weiter?
Halbzeit konnte darauf hindeuten, dass die
Hälfte der Morde vorbei war. Drei von sieben, das war etwa die Hälfte. Es
konnte aber auch bedeuten, dass das Jahr in der Mitte angekommen war. Das würde
ebenfalls Sinn ergeben. Zahl konnte sich auf die
sieben Initiationsriten des Mithraskults beziehen. Demnach waren noch vier
Morde zu erwarten. Gehen konnte auf das Verschwinden
der Frauen hinweisen. Nur konnte bedeuten, dass es
nicht mehr als sieben Frauen waren, oder darauf hinweisen, dass es nur um
Frauen mit bestimmten Merkmalen ging. Heimat konnte
sich auf die Herkunft der Opfer, das Schams, beziehen. Geistreich enthielt das Wort Geist. Ein Hinweis auf den heiligen Geist des
Christentums oder auf eine spirituelle Motivation? Kreuzen schliesslich
war das letzte Wort. So konnte man die Position bezeichnen, in der die
ermordeten Frauen auf dem Felsen gelegen hatten, die Arme ausgestreckt wie
Kreuze.
Es war erstaunlich. Die sieben von ihr nach der Schlorf-Methode
ermittelten Orakelworte liessen sich tatsächlich als einigermassen sinnvolle
Antwort auf ihre Frage auslegen. Sicher war es bloss Zufall und hatte damit zu
tun, dass Worte eben viele Assoziationen freisetzten. Als Polizistin konnte sie
nicht ernsthaft an Orakel glauben. Sie musste bei den Fakten bleiben und
Beweise sammeln. Irgendwie beunruhigend aber war das Ganze doch.
Sie schloss das Wörterbuch. Klappte ihr Notizbuch zu. Löschte das
Räucherstäbchen. Dann wischte sie mit der Hand den grauen Staub zusammen und
blies ihn von der Hand in den Kamin.
«Es klappt», sagte sie, nachdem sie Heinis Nummer gewählt hatte.
«Was klappt?»
«Das Wörterbuch-Orakel. Ich habe eine Frage gestellt, das Ritual
befolgt, wie es Rosenacker erklärt hat, und eine Antwort bekommen.»
«Und jetzt wirst du Wahrsagerin?»
«Nein. Jetzt geh ich noch eine Runde laufen und überlege mir, was
ich von dem Ganzen halten soll. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass es
übersinnlich wird.»
«Aber du bist doch die Yogameisterin.»
«Yoga ist nicht übersinnlich, eher innersinnlich.»
«Jesses Gott, bleib mir mit der Wortklauberei fern. In jedem Fall
danke, dass du mich angerufen hast. Aber entschuldige mich bitte gleich wieder,
ich koche gerade, und nachher kommt Simon zum Stierkampfschauen.»
«Was gibt’s?»
«Coq au Vin.»
«Mit frischem Thymian?»
«Na, was denkst du?»
«Und der Stierkampf?»
«Manzanares. Von 2003. Eine Augenweide, wie er den Stier führt. Und
auch der Stier ist ein Grosser. Er wird am Ende begnadigt.»
«So was kommt vor?»
«Natürlich. Ein grosser Stier ist des Matadors grösster Freund.»
«Viel Spass euch und guten Appetit.»
«Danke. Bis morgen.»
Heini hatte genau zwei Leidenschaften: gutes Essen und gute
Stierkämpfe. Er wurde dafür oft belächelt, manchmal auch beleidigt. Sabina aber
gönnte ihm diese Liebe zum Stierkampf. Sie fand daran nichts Verwerfliches.
Massenhaltung, Tiertransporte und die abartigen Schlachtungsmethoden
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