Schattengott
quälten
ein Tier viel mehr als ein Kampf in der Arena. Zumal die Stiere vor dem Kampf
ein fast fürstliches Leben führten. Heini hatte für diese archaische
Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier eben einen Sinn, den andere nicht
hatten. Er sprach über Stiere und Matadore wie andere über Kunst. Warum sollte
sie da mit der Moralkeule kommen?
Sabina schlüpfte in ihren Laufdress und legte die Stirnlampe an. Sie
lief die Strasse bergan und bog kurz nach Donat auf einen Feldweg ab, der
später in den Wald führte. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Schien es auch
noch so absurd, sie musste sich mit dieser Prophezeiung von Schlorf auseinandersetzen.
Und sie musste ihn ausfindig machen. Die Sache war so nah am Wahnsinn, dass man
mit einem hochgradig psychopathischen Täter rechnen musste. Das Telefonat mit
Schlorfs Tante bestärkte sie nur in dieser Sichtweise. Sie musste Amtshilfe
beantragen und nach ihm suchen lassen. Ein Bild hatte er freundlicherweise auf
seiner Facebook-Seite hinterlassen.
In ihre Gedanken versunken, war sie bis nach Lohn hochgelaufen. Sie
machte ihre Stirnlampe aus, blickte über das nächtliche Schams und dann hinauf
zum Himmel. Die Sterne funkelten in voller Pracht. Sabina schaute fassungslos
nach oben, so hell und lückenlos war die Milchstrasse. Jahrtausendelang waren
diese fernen und doch so nahen Lichter dem Menschen magische Begleiter gewesen.
Und heute?
9
«Er verschwindet Mitte März und wohnt für etwa eine Woche im
Schwarzwald. Dann packt er einen Rucksack und verabschiedet sich, ich zitiere
seine Tante, ‹für den Rest des Sommers in den Wald›. Wer sagt uns, dass er
nicht hier irgendwo im Wald sitzt und von dort aus alles plant?», sagte Sabina.
Mochte auch Malfazi die Geschichte mit der Prophezeiung für absurd
halten, so teilte er doch die Meinung, dass Schlorf ein Schlüssel zur Lösung
des Rätsels sein konnte. Sie mussten eine Fahndung rausgeben.
«Warum hat er Rosenacker das alles erzählt?», fragte Malfazi. «Es
war doch klar, dass wir so irgendwann auf seine Fährte kommen würden.»
«Vielleicht will er das ja. Warum sonst die ganzen Botschaften?
Vielleicht will er dieses Spiel mit der Polizei treiben. Oder er will, dass wir
ihn finden. Erinnerst du dich noch an diese Theorie? Ein Täter, der Botschaften
hinterlässt, will tief im Inneren gefasst werden. Er will, dass man ihn befreit
von der Last des Verbrechens.»
«Du meinst, er muss die Dinge, die er aus seinem Wörterbuch
herausliest, wahnhaft selber ausführen? Und hinterlässt uns die Zeichen, damit
wir ihn daran hindern?», sagte Malfazi. Er hasste es, sich in solchen
Grenzbereichen der Rationalität zu bewegen. «Wir haben da etwas gefunden, was
definitiv mit dem Fall zusammenhängt. Aber wir stochern trotzdem völlig im
Nebel.»
«Solange wir Schlorf nicht finden oder eine andere Erklärung für die
Wortbotschaften auftaucht, ist das so. Leider», sagte Sabina.
«Und was ist mit diesem Ordner? Wo ist Schlorfs verdammter Ordner?»,
sagte Malfazi.
«Lass uns das ganze Schloss auf den Kopf stellen und diesen Ordner
finden. Wenn wir den haben, kommen wir der Lösung vielleicht näher.»
Sie kamen überein, dass sie Rosenacker um die Erlaubnis bitten
würden, sein Schloss zu durchsuchen. So kooperativ, wie er sich bisher
verhalten hatte, war mit seiner Unterstützung zu rechnen.
Sabina war schon auf dem Nachhauseweg, als ihr Funkhandy läutete. Es
war eine Kollegin von der Streife. Sie stünde hier vor einem Laden in Chur,
«Heimatkunst». In der Werkstatt liege eine Leiche.
Sabina beugte sich über Bühler und musste würgen. Sie hielt sich
ein Tuch vor die Nase und sah die Wunde am Hinterkopf. Die Haare waren
verklebt, auf dem Boden hatte sich eine bräunlich geronnene Lache gebildet.
Mittendrin lag eine Steinskulptur. Auch ohne tiefere Fachkenntnisse war ihr
klar, dass die Leiche hier schon einige Tage lang lag.
Bühlers Wunde klaffte auf der linken Seite des Hinterkopfs. Um die
Leiche und die Blutlache herum lagen Akten und Papiere auf dem Boden. Da hat
wohl jemand verhindern wollen, dass wir zu viele Hinweise bekommen, dachte
Sabina. Sie vermutete, dass Bühler unmittelbar nachdem er ihr auf den
Anrufbeantworter gesprochen hatte, ermordet worden war.
10
Am nächsten Morgen hingen in ganz Chur Fahndungsplakate aus, die
Christian Schlorf zeigten. Schlorf war ein junger Mann mit sanften
Gesichtszügen und klaren, fast stahlblauen Augen.
Sabina und ihre Kollegen befragten die benachbarten
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