Schattengott
hier.» Er deutete auf eine kleine Kammer neben der Küche,
die auch vom Korridor aus zu erreichen war. «Was brauchen Sie denn?»
«Ich suche die Liste fürs Auto», sagte Sabina.
«Neben dem Samowar.» Er vollführte mit dem Messer eine unbestimmte
Geste. «Da hängt auch der Schlüssel.»
Sabina überflog die Liste und las die Namen etlicher Schlossgäste,
die seit dem vergangenen Sommer das Auto benutzt hatten.
Sanderson war mehrmals darin eingetragen, auch der Franzose und die
Isländerin hatten das Auto benutzt, allerdings nicht in den letzten Wochen. An
einem Namen, der in den Wintermonaten sehr häufig und fast als Einziger auf der
Liste auftauchte, blieb Sabina hängen: Christian Schlorf.
«Wer ist denn dieser Schlorf?», fragte sie, als sie zurück in der
Bibliothek war und die Liste auf den Tisch legte.
«Schlorf?», wiederholte Redolfi. «Ein eigenwilliger junger Mann. Er
ist vor etwa zwei Monaten abgereist.»
Malfazi hob den Blick und suchte Sabinas Augen. Sie nickte und
notierte sich etwas auf ihrem Block.
«Vielen Dank, Herr Redolfi», sagte Malfazi. «Wenn wir noch Fragen
haben, melden wir uns.»
«Eine habe ich noch», sagte Sabina. «Welche Schuhgrösse haben Sie?»
«Dreiundvierzig», sagte der Franzose und ging grusslos.
«Was hast du ihn noch gefragt?», fragte Sabina.
«Was er hier tut und wo er am Mittwochabend war», sagte Malfazi.
«Und?»
«Er versucht, die Heilwirkung von Musik nachzuweisen. Dafür braucht
er Ruhe, die hat er hier. Am Mittwoch war er ab einundzwanzig Uhr auf seinem
Zimmer.»
«Meinst du, er hat was mit den Morden zu tun?»
«Eher nicht», sagte Malfazi, «der lebt für seine Harmonien. Und das
mit den Schuhspuren können wir auch vergessen. Fast jeder hat Schuhgrösse
zweiundvierzig oder dreiundvierzig.»
«Ja, das bringt uns nicht wirklich weiter.»
«Dann schauen wir uns die Isländerin an?», fragte Malfazi.
«Ich glaube zwar nicht, dass die Morde auf das Konto einer Frau
gehen», sagte Sabina, «aber vielleicht kann sie uns etwas über die Männer hier
sagen.»
Rúna Hauksdóttir wich der Frage nach den männlichen Schlossgästen
aus. Offenbar wollte sie niemanden belasten. Ob sie Christian Schlorf kenne,
fragte Sabina. Ja, sie habe ihn im Februar bei ihrer Ankunft kennengelernt. Er
sei ein Dichter. Aber dann sei er plötzlich weg gewesen. Im März.
Ob ihr etwas aufgefallen sei im Schloss? Ob sie von den vermissten
Frauen und jetzt von den Morden gehört habe? Ja, die anderen hätten sich erst
gestern beim Essen über die Morde unterhalten. Nein, ihr sei nichts
aufgefallen. Sie beschäftige sich aber auch nur mit den Steinen. Ihr Weg sei
das Labyrinth. Am Tatabend sei sie die ganze Zeit zu Hause gewesen.
«Wer ist Christian Schlorf?», fragte Sabina, als sie wieder mit
Rosenacker zusammensassen.
«Schlorf? Ein hochinteressanter Mann», antwortete Rosenacker und
schenkte Kaffee nach. «Er hat die Gabe, aus Wörterbüchern die Zukunft zu
lesen.»
«Aus Wörterbüchern die Zukunft lesen?», wiederholte Malfazi so
abschätzig, dass man seine Meinung dazu nicht weiter zu erfragen brauchte.
«In der Tat», gab Rosenacker unbeirrt zurück. «Aber er ist vor etwa
zwei Monaten abgereist. Hier würden bald schreckliche Dinge geschehen,
behauptete er.»
Er stockte.
«Ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Ja. Schlorf kam Mitte März
zu mir und sagte, er müsse aufbrechen. Hier würden bald grausame Dinge
passieren. Die Orakelworte seien eindeutig gewesen.»
«Und Sie glauben so was?», fragte Malfazi.
«Seine Methode schien zu funktionieren.»
«Die Zukunft vorhersehen aus einem Wörterbuch.» Malfazi blies scharf
die Luft durch die Nase aus. «Bitte verschonen Sie mich.»
«Wie funktioniert denn die Methode?», hakte Sabina nach.
Rosenacker nahm einen Schluck Kaffee.
«Schlorfs Vorgehensweise orientiert sich am I Ging. Kennen Sie das I
Ging?»
Sabina schüttelte halbwissend, aber interessiert den Kopf.
«Ein chinesisches Orakelbuch», sagte Rosenacker. Malfazi sah
demonstrativ aus dem Fenster.
«Man stellt eine Frage und zählt nach einem komplexen System mit
neunundvierzig Stäben ein Antwortsymbol aus, dem wiederum ein Text zugeordnet
ist. Bei Schlorf funktioniert es ein bisschen anders. Er zählt ebenfalls die
Stäbe aus, dann öffnet er mit geschlossenen Augen ein Wörterbuch und erspürt
intuitiv eine Seite. Auf dieser Seite zählt er ab dem ersten Wort die Zahl nach
vorne, die er zuvor bestimmt hat. Das Wort, das er so ermittelt, ist
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