Schattenhaus
Röckchen und gelbem Haar hielten sich an den Händen. Der rätselhafte, beunruhigende Eindruck des Bildes speiste sich aus Details der Elternfiguren. Zwischen den Beinen des Vaters, der am weitesten weg von den Kindern stand, war ein ausgemalter brauner Kreis mit Stacheln dargestellt. Mit einem ebensolchen braunen Igel war das Gesicht des Mannes zur Hälfte übermalt worden. Ein extrem stacheliger brauner Kreis befand sich auch im Gesicht der Frau.
Was sollten die braunen Igel darstellen? Und wer war der Mann auf dem anderen Bild?
Sie mussten noch einmal mit Merle Vogel sprechen. Sie musste die Künstlerin sein, denn die kleine Schwester Wolke war vom Alter her über das Strichmännchenstadium noch nicht hinaus. Winter kamen unangenehme Erinnerungen an die letzte Vernehmung der Kinder. Schon damals war klar gewesen, dass Merle etwas wusste. Sie hatte ja gesagt, sie wisse, wer die Gästezimmertür kaputt geschossen habe. Und ihr Vater habe ihr verboten, es zu verraten. Winter verfluchte sich dafür, dass er sich von den zartfühlenden Kolleginnen damals hatte hindern lassen, Merle so lange ranzunehmen, bis sie redete. Wenn Merle im Januar verraten hätte, was sie wusste, wäre Verena Tamm der Tod vielleicht erspart geblieben und André Bründl das Schicksal eines Dauerkomas. Winter hatte heute noch einmal im Krankenhaus angerufen und Bründls Stationsarzt gefragt, ob es einen Fortschritt gebe. Bründl musste den Täter schließlich gesehen haben. Der Arzt berichtete, Bründl halte jetzt die Augen offen. Doch das heiße gar nichts. Man vermute einen bleibenden Hirnschaden, hervorgerufen durch Sauerstoffmangel, da die Lunge nach dem Durchschuss teilweise kollabiert sei und bis zur Ankunft der Helfer das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen konnte. «So wie es aussieht, wird der Herr Bründl lebenslang ein Wachkomapatient bleiben.»
Winter schob den Gedanken an den jungen Mann beiseite, der nie erfahren würde, dass er durch die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchung wissenschaftlich rehabilitiert war. Auf nach Allmenrod, dachte er und legte die Kinderzeichnungen ins Handschuhfach. Vielleicht wäre der Fall ja in zwei, drei Stunden geklärt.
***
Das Haus, in dem Jörg Krombach ganz allein gemeldet war, lag am Rand einer Gruppe ähnlicher Häuser: alle aus den Fünfzigern oder frühen Sechzigern, alle besaßen einen Hof umrahmt von Anbauten, die weit älter aussahen. Winter hatte neben der Einfahrt geparkt. Als er die Wagentür öffnete, schlug ihm ein stechender Geruch von Mist ins Gesicht. Er stieg aus, schlenderte über den Hof und sah sich um. Winter rechnete damit, Jörg Krombach, von Beruf Landwirt, nicht im Wohnhaus anzutreffen, sondern in einem der Nebengebäude, wenn er nicht auf dem Feld seiner Arbeit nachging. Krombachs Trecker war allerdings hier: Das Gefährt stand vor einem offenen Scheunentor und sah aus, als stamme es aus den Zeiten vor der letzten Landreform. Wahrscheinlich war es auch seitdem nicht gewaschen worden. Winter warf einen Blick in die Scheune, wo im Halbdunkel diverse Anhänger herumstanden. Weiter konnte er in Plastikfolie gehüllte Ballen sowie Eimer und Tröge erahnen, die vielleicht Tierfutter oder Dünger oder dergleichen enthielten. Doch keine Menschenseele. Winter trat auf den Hof zurück. Da kam ein älterer Mann in Arbeitskleidung mit rotem, knochigem Gesicht, buschigen Brauen und einem blauen Stoffhütchen erregt auf ihn zu: «Was machen Sie denn hier? Das ist Privatgelände!»
«Herr Krombach?», fragte Winter. Eigentlich war der Mann zu klein für die Beschreibung, die Aksoy ihm gegeben hatte. Zu klein und zu alt.
«Krombach, Dieter», erklärte der Mann, während Winter seinen Dienstausweis zeigte.
«Winter, Kriminalpolizei. Ich muss mit Herrn Jörg Krombach sprechen. Das ist Ihr Bruder, nehme ich an?»
«Das mag wohl sein. Der ist aber nicht da.»
«Wo ist er denn?»
«In der Stadt. Den können Sie nicht sprechen.»
Die Aussage klang ängstlich und nicht gerade glaubwürdig.
«Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen», sagte Winter und ging seelenruhig auf die Haustür zu. Der ältere Krombach kam hinter ihm hergelaufen. «Wenn ich’s doch sag, es hat keinen Zweck», rief er, plötzlich im Kasernenton. «Der Jörg ist heut nicht da, wenn Sie auch zwanzigmal von der Kripo sind.» Winter wollte gerade die Hand zum Klingelknopf ausstrecken, da öffnete sich die Tür wie von selbst und ein Bär von einem Mann erschien. Sein Gesicht war
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