Schattenhaus
Dieter Krombach vorhin so heftig reagiert hatte. Er wollte Jörg vor Verdächtigungen schützen, wollte nicht, dass dessen Krankheit oder sein mögliches Motiv für einen Mord der Polizei bekannt wurde. Und dann öffnet Jörg der Polizei in einem T-Shirt mit der Aufschrift:
Sieh mich nicht an – ich bin schizophren!
Winter verband diese Krankheit mit Wahnvorstellungen, mit gefährlichem Realitätsverlust, mit Leuten, die unberechenbar plötzlich gewalttätig wurden. Sie hatten etwa einmal im Jahr einen solchen Fall im K 11 . Seine Krankheit machte Jörg Krombach mit einem Schlag verdächtiger als vorher. Vielleicht waren die Taten im Haus Vogel und im Haus Grafton gerade deshalb so rätselhaft, weil die verquere Logik von Wahngedanken dahinter stand. Ließe sich so auch die Geschichte mit der kaputt geschossenen Tür erklären? Und hatten Vogels das deshalb nicht angezeigt, weil Sabrina Pfister den Täter kannte, wusste, dass er krank war, und ihn nicht anzeigen wollte?
Andererseits: Augenblicklich wirkte Jörg Krombach tatsächlich ganz normal. Und er war sehr offen gewesen. Bis jetzt.
«Herr Krombach, wissen Sie denn irgendetwas über den Mord an Sabrina Vogel und ihrem Mann?»
«Nein, gar nichts. Hab gedacht, er wird in krumme Geschäfte verwickelt gewesen sein. Oder sie hatte einen Neuen, und der Neue war sauer, dass sie sich dann doch nicht trennen wollte. Ich sag ja, die Sabrina hatte kein glückliches Händchen mit Männern.»
«Haben Sie ein Alibi für die Mordnacht, vom 25 . Dezember auf den 26 .? Ich muss das jeden fragen, der Frau Vogel kannte.»
Er sei drüben beim Dieter gewesen, sie hätten zusammen ferngesehen bis zehn, dann habe er sich zu Hause ins Bett gelegt. Er müsse wegen der Melkziegen früh raus. Für deren Milch habe er Abnehmer in Lauterbach, ein Bio-Restaurant.
Also nicht einmal ein halbes Alibi. Die Aussagen von Dieter und seiner Frau waren wegen der Verwandtschaft wenig wert, selbst wenn sie Jörgs Angaben bestätigten. Und theoretisch hätte Jörg es schaffen können, den Tatort rechtzeitig zu erreichen, selbst wenn er nach zehn losgefahren war, je nachdem, wie in jener Winternacht die Straßenverhältnisse im Vogelsberg gewesen waren.
«Wo steht denn Ihr Motorrad?», schoss Winter ins Blaue.
«In der Garage. Hab es aber seit Jahren nicht angemeldet. Woher wissen Sie, dass ich ein Motorrad hab?»
«Dorftratsch», log Winter. Er wollte Jörg Krombach eigentlich nicht verdächtigen. Der Mann tat ihm irgendwie leid. Aber da kam jetzt einiges zusammen. «Wann haben Sie zuletzt mit Hendrik von Sarnau gesprochen?»
Krombach stierte ihn ausdruckslos an.
«Kenn ich nicht», sagte er schließlich. Jeder andere hätte nachgefragt: Wer soll das sein? Nicht Jörg Krombach. Vielleicht deshalb, weil er ganz genau wusste, wer Hendrik von Sarnau war?
Winter bedankte sich vorläufig für Krombachs Mitarbeit und verabschiedete sich. Dummerweise hatte er keinerlei Utensilien dabei. Eigentlich müsste er Krombach auf Schmauchspuren untersuchen. Obwohl es eh schon etwas spät dafür war.
Draußen lehnte Winter sich an den Wagen und grübelte. Die Waffe. Was hatte Krombach eben über Magnum-Revolver gesagt? «Der alte Pfister liebt die Dinger.» Der pensionierte Förster war ein Waffennarr, das zeigte seine Sammlung. Wie, wenn er mehr als einen solchen Revolver besaß? Beim Amt gemeldet war nur einer. Aber Waffensammler nahmen es mit der Meldung mehrerer Waffen desselben Typs nicht immer so genau.
Winter erinnerte sich an den Pfister’schen Flur: Das Schlüsselbrett mit dem Schlüssel zum Waffenschrank hing bei der Haustür. Gleich daneben lag die Tür zur Gästetoilette. Der Waffenschrank war oben im zweiten Stock und konnte über das Treppenhaus erreicht werden, ohne dass man es im Wohnzimmer mitbekam. Winter nahm an, dass diese Verhältnisse den meisten Allmenrödern bekannt waren. Praktisch jeder, der in den letzten Jahren einmal bei Pfisters gewesen war, hätte die Möglichkeit gehabt, sich an dem Waffenschrank zu bedienen.
Noch ein Grund mehr, Pfisters zu besuchen. Winter trat auf die Dorfstraße und ging zu Fuß zum Haus des pensionierten Försters. Vom Krombach’schen Anwesen aus waren es keine hundert Meter. Die verfeindeten Familien hatten sich in dem engen Dorf kaum ausweichen können. Vielleicht war es gerade die Nähe, die diese Familienfehde so lange lebendig gehalten hatte, dass bei einem Mord an dem Mitglied einer Familie automatisch die andere im Verdacht stand, für die
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