Schattenhaus
Bründl auf die Sprünge helfen, wenn er den Ort sieht, an dem er angeschossen wurde?»
«Gute Idee», sagte die Ärztin. «Das ist möglich. Ich hatte jetzt wegen dieses Patienten mal Amnesie nachgelesen. Ist schon interessant. Da gab es eine Untersuchung an Ratten, die nach hypoxischer Amnesie in das Gehege zurückgebracht wurden, wo sie das gelernt hatten, was durch die Amnesie ausgelöscht wurde. Und bei denen kam nach ein paar Minuten in dem Gehege die Erinnerung zurück.»
Winter fand es unheimlich, dass man von Rattenexperimenten auf menschliche Hirnfunktionen zurückschließen konnte. Aber jetzt hatte er wenigstens einen Plan und war nicht ganz umsonst gekommen. Er würde eine Rekonstruktion der Vorgänge im Hause Grafton anleiern, sobald Bründl körperlich fit genug war.
***
Am Montag war die Hausdurchsuchung bei der verstorbenen Birthe Feldkamp. Da Computerspezialist Steffen Leibold nicht im SoKo-Team war, nahm Winter sich Feldkamps Rechner selbst vor. Als er die Downloads prüfte, entdeckte er schön ordentlich abgespeicherte Telefonrechnungen mit Einzelverbindungsnachweis. Und wer fand sich unter den Telefonkontakten mit einer Menge Telefonaten zwischen März und Mai? Kein anderer als Hendrik von Sarnau.
Es war anscheinend wirklich so, dass sogar die selbstbewusste, unabhängige Birthe Feldkamp auf Sarnaus dumme Tricks hereingefallen war. Vollkommen unverständlich für Winter. Aber bei Frauen kapitulierte er ohnehin regelmäßig davor, ihre Reaktionen zu verstehen. Siehe Carola.
Vielleicht hatte also die zerschossene Tür nicht die Bedeutung, die er ihr beimaß. Er hatte sich da wohl tatsächlich in eine fixe Idee hineingesteigert. Heute früh hatte er eine Vorladung an Frau Birgit Höfling abgeschickt, die er wegen Merles «Phantasiegeschichten» befragen wollte – das war nun völlig überflüssig.
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Merle hatte letzte Nacht wieder den Albtraum gehabt. Schuld war bestimmt das Schwimmbad, wo sie unter Wasser jemand angefasst hatte, und sie hatte sich furchtbar erschrocken. Denn vorher hatte sie es lange nicht mehr geträumt. Sie lag im Traum im Bett und konnte sich nicht bewegen. Sie hatte die Tür abgeschlossen, ein Trick, um sich vor dem Dämon zu schützen. Der stand nun brüllend dahinter und schlug gegen das Holz und war viel böser, als sie ihn je erlebt hatte. Dann war plötzlich Ruhe. Die Gefahr schien vorüber. Doch gerade als sie sich entspannte, hörte sie draußen ein Geräusch und wusste, jetzt würde alles noch viel schlimmer werden. Plötzlich knallte und krachte es und roch nach Pech und Schwefel wie in der Hölle (laut Oma war die Hölle voll Pech und Schwefel, und sie würde dorthin kommen, wenn sie weiter so böse war). Und dann ging mit einem Krachen die Tür auf, und der Dämon kam zu ihr herein, brüllend und fluchend, und sie wachte schreiend auf.
Doch kurz darauf war Ulli bei ihr und nahm sie in den Arm. Gott sei Dank. Jetzt würde alles gut werden.
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Der nächste Fortschritt – oder war es ein Rückschritt? – ließ nicht lange auf sich warten. Aksoy hatte morgens an strategischen Stellen in Kalbach und Riedberg Fahndungszettel aufgehängt, mit der Bitte, sich zu melden, falls man in der Nacht vom ersten auf den zweiten Weihnachtstag letzten Jahres am Vogel’schen Haus vorbeigefahren oder -gelaufen war. Am frühen Nachmittag rief ein junger Mann aus Kalbach an: Er sei in der fraglichen Nacht mit dem Motorrad unterwegs gewesen. Weil er, bevor er losfuhr, mit seiner Freundin gestritten habe, könne er sich noch gut erinnern. Außerdem sei es glatt gewesen, und er habe sich mit dem Motorrad auf dem holprigen Feldweg fast hingelegt. Jedenfalls sei er gegen zwölf an dem fraglichen Haus vorbeigefahren und von dort aus zurück in den Ort.
Damit war klar: Ihre These vom motorradfahrenden Mörder konnten sie vergessen. Sie wussten nicht, wie der Täter zum Haus der Vogels gekommen war.
Ob er an oder vor dem Vogel’schen Haus etwas beobachtet habe, fragte Winter den Zeugen am Telefon. «Einen Wagen auf dem Hof, Menschen, Lärm?»
«Nö. Kann mich nicht erinnern. Bloß, irgendwo hat jemand mit Böllern rumgeknallt. Das war dann auch der Moment, wo’s mich fast hingehauen hat, wahrscheinlich vor Schreck. Konnt gerade noch das Rad rumreißen und mich mit dem Bein abstützen. Sonst wär das nämlich geplättet gewesen, das Bein, mein ich.»
Gegen Abend traf sich Winter mit dem jungen Mann zu einer Ortsbegehung und zur Unterschrift unters Protokoll. Bei den
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