Schattenhaus
Bluthochdruck. Sie lebte in der ständigen Angst, ihm könnte etwas passieren.
Andrea schüttelte den Kopf, zog Ulli ins Schlafzimmer und schloss die Tür. «Es war wieder diese Frau Pfister, die Oma der Mädchen. Und weißt du was? Ihr Mann ist gestern gestorben. Und jetzt, wo sie ihn nicht mehr pflegen muss, wäre es ihr möglich, die Kinder zu nehmen. Ulli, sie will die Kinder.»
Ulli hatte das Gefühl, der Boden sacke ihr unter den Füßen weg. Sie setzte sich aufs Bett. «O nein», murmelte sie und schlug die Hände vors Gesicht.
Sie sah die große neue Wohnung vor sich, wie leer und still und traurig sie ohne die beiden Mädchen wäre. Sah, wie sie nach der Arbeit nach Hause kommen würde, ohne von einer fröhlich heranhüpfenden Merle, einer quiekenden Wolke begrüßt zu werden. «O nein», wiederholte sie noch einmal. Dann richtete sie sich auf. «So, Liebste. So einfach geben wir uns nicht geschlagen. Die Frau hat sich null für die Kinder interessiert, als die sie am meisten gebraucht hätten. Die Eltern sind gestorben, und die Oma hat sie mutterseelenallein sitzenlassen. Das ganze letzte Dreivierteljahr hat sie sich nicht um Merle und Wolke gekümmert. Mir kann keiner erzählen, dass sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich Hilfe zu holen oder den Mann für ein paar Tage im Heim unterzubringen, damit sie die Kleinen wenigstens mal besuchen kann. Sie hat ihre Chance vertan. Bei uns sind die beiden besser aufgehoben als bei ihr. Das muss jeder einsehen. Wenn du mich fragst: Die interessiert sich auch jetzt nicht für die Kinder. Die will nur an die Kohle. Sie würde ja als Blutsverwandte wahrscheinlich die Vollmacht über das Geld aus dem Hausverkauf kriegen, was jetzt der Betreuer vom Gericht verwaltet. Die will das Geld, das ist alles. Wir werden kämpfen, Andrea. Für uns und vor allem für die Kinder. Es sei denn, natürlich, sie wollen unbedingt zur Oma. Das müssen wir sie jetzt leider fragen.»
***
Der böige Wind hatte sich plötzlich gelegt. Die Abendsonne tauchte die schäbige alte Hausfassade in orangefarbenes Licht und spendete wohlige Wärme. Irgendwo zirpte eine Grille.
«Was hältst du von den Kinderzeichnungen?», fragte Winter.
«Das Familienporträt ist unheimlich», sagte Aksoy. «Hast du eine Ahnung, was diese braunen, spinnenartigen Dinger sein sollen, die sie auf ihre Mutter und ihren Vater gemalt hat?»
«Nicht die geringste. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber es ist wirklich ärgerlich, dass wir Merle nicht noch mal befragen können.»
«Es würde wahrscheinlich nichts helfen», tröstete ihn Aksoy. «Entweder, sie würde es uns nicht verraten. Oder aber sie kann sich selber nicht mehr dran erinnern, was sie mit den braunen Dingern sagen wollte, und würde uns irgendeine Geschichte erzählen, die nur noch mehr verwirrt.»
Irgendeine Geschichte erzählen …
Winter hatte mit einem Mal diese Frau Höfling in ihrer Verkehrsbetriebe-Uniform vor Augen, die Mutter von Merles Freundin Julia, die er hier vorm Haus getroffen hatte.
Die Merle Vogel hat ein bisschen viel Phantasie, die hat der Julia immer Sachen erzählt …
so ähnlich hatte sie sich geäußert. Wie, wenn es gar nicht stimmte, was Merle über die zerschossene Tür erzählte? Dass sie wisse, wer geschossen habe, und ihr Vater ihr verboten habe, es zu sagen?
Plötzlich kamen Winter zwei Erleuchtungen auf einmal. Erstens, sie hatten immer angenommen, dass diese kaputte Tür die Gästezimmertür war, weil im Gästezimmer die Tür fehlte. Doch das war ein Denkfehler. Türen ließen sich umhängen. Die zerschossene Tür hatte vielleicht ursprünglich zum Schlafzimmer der Eltern gehört. Nachdem sie kaputt war, hatten Vogels die unbrauchbare Tür in den Schuppen geschafft und die ursprüngliche Gästezimmertür im Schlafzimmer angebracht. Im Gästezimmer schlief ja nur alle Jubeljahre jemand, der Raum kam also am ehesten ohne Tür aus. Ins Gästezimmer hatte gar niemand eindringen wollen. Ihre alte These von den dort versteckten Diamanten oder Goldbarren konnten sie vergessen. Es war von Anfang an darum gegangen, Menschen zu verletzen und nicht um Habgier.
Zweitens: Er musste dringend mit Frau Höfling sprechen.
Die Merle hat der Julia immer Sachen erzählt …
Er hätte jetzt doch zu gerne gewusst, welche.
Er blickte auf die Taunus-Höhenzüge und den Sonnenuntergang und grübelte weiter. Plötzlich sagte Aksoy: «Da fällt mir was ein.»
Im gleichen Moment klingelte Winters Telefon, eine unbekannte
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