Schattenhaus
noch mal die Kinder schützen. Ohne jeden Plan, mit schwarzen Flecken vor den Augen und pochender, vor Schmerz brüllender Hand rannte Andrea mit der Waffe in Richtung Kinderzimmer. Wolkes Zimmer mit den Betten war leer. Andrea raste nach nebenan in Merles Spielzimmer. Es war das Falscheste, was sie hätte tun können. Die verrückte Großmutter stand mit dem Rücken zur Tür und hatte ihr Gewehr auf einen Berg von Kisten in einer Ecke angelegt, hinter denen sich die Kinder verschanzt hatten. In demselben Augenblick, in dem die alte Frau Andreas Schritte hinter sich hörte, schoss sie. «Halt», schrie Andrea außer sich, stürzte sich von hinten auf die Verrückte und riss sie am Arm herum, während sich ein weiterer Schuss löste und eins der Kinder ein helles Kreischen hören ließ. Andrea setzte der Frau ihre Pistole direkt auf die Brust. Fast war es erleichternd, der Feindin Auge in Auge gegenüberzustehen. Mit ihrem langen, schlecht manövrierbaren Schießprügel war die Verrückte jetzt im Nachteil, jedenfalls wenn man nicht berücksichtigte, dass Andreas Waffe nicht geladen war. Die Brust der Frau hob und senkte sich. «Lassen Sie die Waffe fallen», sagte Andrea mit einer Reibeisenstimme, die ihr nicht zu gehören schien. Die alte Frau sah sie aus wässrigen Augen an, streckte beide Arme nach unten, als wolle sie das Gewehr auf den Boden legen. Doch dann drehte sie es ganz herum, verrenkte sich, schob sich beide Läufe in den Mund und drückte ab. Jetzt schrie Andrea zusammen mit den Kindern aus voller Kehle. Ohne einen Blick auf die zusammenbrechende Frau Pfister zu werfen, ließ Andrea ihre Waffe fallen und stürzte sich auf die Kisten in der Ecke, unter denen sie eine blutüberströmte, leichenblasse Merle und eine leise wimmernde Wolke hervorzog, die unverletzt geblieben war. Merle hatte sich schützend auf sie gelegt.
Andrea ignorierte ihre verletzte Hand, nahm Merle mit beiden Armen hoch, griff sich Wolke gleich dazu mit einer Kraft, von der sie kaum glauben konnte, dass sie sie noch besaß, und schleppte beide Kinder aus dem Raum, wobei sie sich bemühte, die schrecklichen Überreste der Großmutter nicht anzusehen. Mit letzter Kraft schleppte sie die Kinder durch den Flur in die Küche, wo sie die Mädchen am Boden ablud, sich das Handy von der Arbeitsplatte schnappte, selbst am Boden neben den beiden niedersank und den Notruf wählte. Andrea schaffte es noch, ihre Adresse durchzugeben und dass es Verletzte gab. Dann verlor sie das Bewusstsein.
***
Als sie von Grafton zurückkamen, rückte in der Tiefgarage gerade ein ganzer Trupp zum Einsatz aus. Neben dem Aufzug stand Aksoys alter KDD -Kollege Falk Binz und rauchte. Er und Aksoy begrüßten sich. «Weißt du, weshalb die eben raus sind?», fragte sie. «Notruf», erläuterte Binz. «Mehrere Verletzte bei einer Schießerei irgendwo in Höchst. Ein Anruf kam von den Nachbarn. Kuriose Sache irgendwie. Da soll wohl eine Familie in ihrer Wohnung von irgendeiner Oma mit ’ner Knarre überfallen worden sein.»
Winter und Aksoy sahen sich an. «Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke», sagte Winter. Noch vom Aufzug aus rief er in der Zentrale an. Zu «Oma mit ’ner Knarre» fiel ihm leider sehr eindeutig nur eine bestimmte Person ein. Zwar hatten sie Frau Pfister wohlweislich ihren geliebten Revolver noch nicht zurückgegeben, und Winter hatte sogar unrechtmäßigerweise den Schlüssel zum Waffenschrank wieder einbehalten. Aber es gab im Pfister’schen Haus ja noch weitere Waffen: Die beiden alten Jagdgewehre, die im Wohnzimmer die Wand zierten. Wenn man sie gut putzte, waren sie wahrscheinlich noch funktionsfähig.
Die Zentrale wusste nichts von einer Frau Pfister. Die Anruferin allerdings, die den Notruf getätigt hatte, die hieß ausgerechnet Vogel. Andrea Vogel.
«Geht ihr rein und haltet euch bereit», sagte Winter zu den anderen. «Ich muss da jetzt hin.»
Er fühlte sich unendlich schlecht. Was auch immer passiert war, er war schuld.
Im Gehen drehte er sich noch mal um. «Hilal? Versuch rauszukriegen, wo die Tamm-Kinder und die Vogel-Kinder jetzt sind. Und zwar schnellstens. Mach die platt im Jugendamt, wenn sie wieder nichts rausrücken.»
***
Es war die Zeit am Tag, zu der sich auf der Mainzer Landstraße der Berufsverkehr kolonnenweise stadtauswärts schob. Winter hatte auf der Fahrt nach Höchst genügend Zeit zum Nachdenken. Vor der Notrufadresse, einem einzeln stehenden, großen, schmucklosen alten Haus an der vielbefahrenen
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