Schattenhaus
Schreckliches zu sehen gab und wohin Freimanns Leute noch nicht vorgedrungen waren. «Und?», fragte er.
«Im Jugendamt habe ich noch niemanden erreicht, aber ich hab mit Herrn Tamm gesprochen», sagte sie.
«Und, wo sind seine Kinder?»
«Er hat gar keine», sagte sie heiser und schluckte. «Mir ist eine furchtbare Idee gekommen. Wir waren so blind, Andi, wir waren so blind.» Sie begann plötzlich zu weinen.
Winter ging einen Schritt vor und nahm sie in den Arm. Was sollte er auch anderes tun?
***
Es war zehn Uhr vormittags, als Winter endlich Ulrike Stamitz vor sich sitzen hatte. Er war schon seit sieben im Büro. In seinem Schädel hatte sich seit gestern Abend ein dumpfer Kopfschmerz festgesetzt, aber im Geist fühlte er sich seltsam euphorisch und glasklar. Zum allerersten Mal hatte er das Gefühl, die Puzzlestücke im Fall Vogel würden sich alle zusammenfügen.
Stamitz berichtete noch einmal genauestens, wie Andrea Vogel und sie an die Kinder gekommen waren, wie dann die Großmutter, Frau Pfister, mit ihnen in Kontakt getreten war, sie bedrängt hatte, die Kinder abzugeben, und schließlich überstürzt den fatalen Besuch angekündigt hatte. Winter interessierte das alles nur am Rande. Er ließ die dunkelhaarige Frau fertig erzählen. Dann sagte er:
«Frau Stamitz, wir haben in Ihrer Wohnung ein Jagdgewehr gefunden, da waren die Fingerabdrücke von Frau Pfister drauf und sonst keine. Außerdem haben wir aber noch einen Revolver gefunden, der mit Fingerabdrücken und DNA -Spuren von mindestens fünf Personen übersät war. Nur die von Frau Pfister konnten unsere Leute nicht entdecken.»
Das war ein halber Bluff. Bisher wusste Winter nur: Der Revolver war voller Spuren, und mit ihm war gestern nicht geschossen worden. Der Rest war geraten. Nach einer Pause, während deren sich in Frau Stamitz’ Gesicht eine Menge tat, schob Winter hinterher: «Mich würde sehr interessieren, was Sie mir zu der Geschichte dieses Revolvers sagen können.»
Ulrike Stamitz’ Gesicht verriet ihren inneren Kampf, dann verhärteten sich ihre Züge.
«Ich kann dazu nichts aussagen», erklärte sie.
Winter seufzte.
«Frau Stamitz, falls Sie es nicht wissen, möchte ich Sie darüber informieren, dass derzeit ein wahrscheinlich unschuldiger junger Mann wegen Mordes an dem Ehepaar Sabrina und Thomas Vogel auf der Anklagebank sitzt. Falls Sie zur Aufklärung des Falles beitragen können –»
«Wer ist der Mann?», fragte sie schnell. «Ich glaube nicht, dass er unschuldig ist.»
Eine Sekunde fragte sich Winter, ob sie auf der falschen Fährte waren.
Dann drückte er die Pausentaste, ganz offen, sie sollte es sehen.
«So, Frau Stamitz. Ihre Fingerabdrücke waren da auch mit drauf und die von Frau Vogel, und wir wissen, dass mit dem Revolver in den letzten acht Monaten drei Leute getötet und eine weitere Person schwer verletzt wurde. Wenn Sie jetzt nicht reden, kann ich Ihnen und Frau Vogel den schönsten Ärger machen. Was meinen Sie, wie schnell das Jugendamt Ihnen dann die Kinder wieder weggenommen hat. Sie können sich auch gerne erst mal unter uns äußern, ohne Protokoll und Tonaufnahme. Aber reden müssen Sie, alles andere werde ich nicht akzeptieren. Wir müssen wissen, was da gelaufen ist.»
Sie sah erschrocken aus. «Ach, wissen Sie», sagte sie schließlich, «ich würde es ja gerne jemandem erzählen. Ich glaube nur nicht, dass die Polizei die richtige Adresse ist. Ein Psychologe schon eher.»
«Na, was meinen Sie, was ich bin», sagte Winter trocken. «Glauben Sie wirklich, es gibt bessere Psychologen als Leute, die seit fünfzehn Jahren bei der Kripo arbeiten?»
Damit hatte er den richtigen Ton getroffen. Ulrike Stamitz entspannte sich nach und nach, sackte ein bisschen in sich zusammen, und schließlich begann sie, zunächst noch zögerlich, dann immer flüssiger zu erzählen.
Den Revolver hatte sie am letzten Sonntag oder Montag unter einem Stapel Bilder in einer von Merles Kisten gefunden. Das Mädchen war sehr selbständig mit ihren Sachen und beim Aufräumen, und so kam es wohl, dass sie die Entdeckung nicht früher gemacht hatten. Sie hatten Merle später zu dem Revolver befragt. Und daraufhin hatte Merle eine unglaublich schreckliche Geschichte erzählt.
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Neun Monate zuvor
A n einem frostigen Dezembernachmittag fand Sabrina einen absenderlosen Brief im Briefkasten, der an sie adressiert war. Sie ahnte etwas, legte die restliche Post an der Garderobe ab und riss den
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