Schattenhaus
Dienstag?»
«Keine Ahnung, aber ich nehm’s an.»
Aksoy hatte das mitgehört. Als Bründl weg war, sagte sie: «Ich kümmere mich gleich drum, dass wir die Tamm-Kinder befragen, okay? Wie blöd von uns, wir haben gedacht, die können nichts wissen. Aber wenn die wirklich dabei waren … mein Gott. – Bei der Gelegenheit, Andi: Als wir am Wochenende beim Haus der Vogels waren, ist mir noch so eine verworrene Idee gekommen. Was, wenn der Täter die ganze Familie Vogel umbringen wollte? Und die Kinder nur überlebten, weil sie sich versteckt hatten? Sie hatten doch gesagt, sie hätten sich versteckt. Und dann hat ihn vielleicht das Geräusch des Motorradfahrers draußen aufgeschreckt, und er ist abgehauen. Das bringt uns zwar nicht weiter. Aber vielleicht sollten wir die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Vogel-Mädchen noch in Gefahr sein könnten.»
Auf der Fahrt zurück ins Präsidium saß Winter am Steuer, während Aksoy neben ihm per Freisprechanlage bei Carsten Tamm anrief, dem Ehemann der ermordeten Putzfrau. Ob seine Frau am Tattag die Kinder mit zur Arbeit genommen habe?, fragte sie.
Nein, am Tattag nicht. Jedenfalls seien sie zu Hause gewesen, als er zurückkam.
«Von wo sind Sie denn zurückgekommen?»
«Ich war beim Arzt. Beim Professor Heumann in der Uniklinik. Der ist Diabetologe.» Natürlich, sein Alibi. Das hatte er schon erzählt, als sie letzte Woche bei ihm waren. Und Aksoy hatte es längst mit der Klinik gegengecheckt. «Wir müssten dringend die Kinder befragen», sagte sie. «Ist das möglich?»
Bei Kindern brauchten sie die Zustimmung eines Sorgeberechtigten. Selbst in so einem Fall. «Von mir aus», sagte Tamm. «Da müssen Sie sich aber beim Jugendamt melden, ich hab die Kinder doch nicht mehr. Ist ja auch besser so.»
Unglaublich, wie locker er das nahm. Über seine Kinder sprach er wie über einen wegen Alkoholismus vernünftigerweise abgegebenen Führerschein. Aksoy dachte an die Vogel-Mädchen, die nach dem Tod der Eltern von beiden Großmüttern im Stich gelassen worden waren. Sie dachte an ihre eigenen Kinder, deren Vater sich seit einem Dreivierteljahr nicht mehr hatte blickenlassen. Wahrscheinlich, weil es ihm selbst zu weh tat. Aber das machte für die Kinder keinen Unterschied.
***
Die letzten Tage waren für Andrea extrem stressig gewesen. Erst Ullis krasse Entdeckung in Merles Bilderkiste. Okay, damit kamen sie zurecht. Sie hatten ja immer gewusst, dass sie bei den Kindern psychische Heilarbeit leisten mussten. Vielleicht war es gut, dass sie jetzt besser informiert waren, welche Katastrophe es hier zu verarbeiten galt. Ulli hatte am Montag nach dem Fund lange mit Merle gesprochen, und Merle hatte unter Tränen den Verdacht bestätigt und eine Geschichte erzählt, die entsetzlicher nicht sein konnte.
Sie brauchten jetzt alle miteinander Ruhe und Stabilität. Doch die ließ ihnen die Großmutter der Kinder nicht. Frau Pfister rief wieder und wieder an. Erst hatte sie versucht, Andrea zu überreden, die Kinder mit Sack und Pack in ihr Dorf bei Lauterbach zu fahren und ihr zu überlassen, einfach so. Dabei hatte sie ja noch nicht einmal mit dem Jugendamt kommuniziert. Als der alten Frau klarwurde, dass es so einfach nicht funktionieren würde, wünschte sie «nur» noch einen Besuch der Kinder bei ihr. Doch auch davor schreckte Andrea zurück. Sie hatte Angst, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, verdächtigte die Frau, etwas zu planen, das sie und Ulli vor vollendete Tatsachen stellen würde. Oder würden etwa die Kinder sich in der vertrauten Umgebung der großelterlichen Wohnung plötzlich so sehr zu Hause fühlen, dass sie dableiben wollten? Würden sich die Kinder am Kaffeetisch der Großmutter überhaupt trauen, nein zu sagen, falls die Großmutter die Mädchen direkt fragte, ob sie zu ihr wollten?
Andrea ließ sich schließlich auf einen Kompromiss ein. Ein Besuch Frau Pfisters in Frankfurt, wie sie ihn ohnehin verabredet hatten, nur früher als geplant.
Donnerstagnachmittag war es so weit. Es klingelte, und einige Minuten später stand eine schnaufende ältere Dame vor der Tür, der Schweiß über das gerötete Gesicht lief. Die fünf Stockwerke Treppen bis unters Dach hatten sie offenbar sehr angestrengt. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Andrea, dass Frau Pfister schweres Gepäck dabeihatte: Neben einem militärisch wirkenden Leinenrucksack trug sie eine Art Umhängetasche, im selben Khakigrün wie der Rucksack, die von der länglichen Form her
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