Schattenhaus
dass ich wüsste. Thomas hat sich bloß furchtbar aufgeregt und ihr verboten, je wieder Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen.»
«Wann haben Sie Sabrina Vogel zuletzt gesehen?»
«Vor zwei Jahren um Weihnachten herum.»
«Haben Sie damals bei Vogels übernachtet?»
«Ja.»
«In welchem Zimmer?»
«Oben war so ein kleineres Zimmer, wo Sabrina ihre alten Sachen aufbewahrt hat, und da stand auch ein Gästebett.»
«Hatte der Raum eine Tür?»
«Sicher hatte der eine Tür.»
«Was war das für eine Tür? Welche Farbe?»
«Holz, denke ich. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe gerade kein Bild vor Augen, wie bei Sabrina die Türen sind.»
«Blau gestrichen?»
«Ach so, ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Sie hatte oben die Türen und Türrahmen alle abgeschliffen und blau gestrichen. Als ich das letzte Mal da war, hatte sie das gerade frisch gemacht. Es roch noch nach Lack.»
«Und im Gästezimmer war eine Tür? Oder war die womöglich zum Trocknen ausgehängt?»
«Nein, die Tür war drin. Da bin ich sicher.»
Von Wertsachen im Gästezimmer oder sonst irgendwo im Haus wusste Janine Paulus nichts. Das hatte sie vor Wochen auch schon Sven Kettler so zu Protokoll gegeben. Pro forma fragte Winter noch ein Alibi ab. Paulus gab wie erwartet an, zur Tatzeit in Kanada gewesen zu sein. Durch ihren Anruf beim Polizeipräsidium war dies für den Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages auch belegt. Aus Sorgfalt würde Winter noch jemanden von seinen Leuten überprüfen lassen, ob Paulus in den zwölf Stunden zuvor nicht etwa einen Flug von Frankfurt genommen hatte. Doch hier war mit keiner Überraschung zu rechnen.
***
Während die Schreibkraft das Protokoll ins Reine schrieb, marschierte Winter ins Büro zurück, um sich Sven Kettler zur Brust zu nehmen, der fahrlässig den Hirntumor unterschlagen hatte. Doch Kettler war gar nicht da. Winter griff nach der Akte und durchforstete den Obduktionsbericht aus der Rechtsmedizin. Da hätte ein Tumor doch ebenfalls bemerkt werden müssen?
Das wurde er auch, nur konnte das ohne Vorinformation kein Laie verstehen:
… winzigste Infiltrationen abnorm differenzierter, gemästeter Zellen mit strichförmigen Nekrosen ventral zum zweiten Schusskanal im rechten Temporallappen, die ein Glioblastom in unmittelbarer Nähe vermuten lassen, dessen Hauptmasse vermutlich zu dem ausgetretenen Gewebe gehört. Jedoch ist keine Verschiebung der Mittellinie erkennbar, sodass die Raumforderung begrenzt gewesen sein dürfte.
Winter verspürte Ekel aufsteigen. Wenn er das richtig verstanden hatte, klebte der Tumor im Vogel’schen Schlafzimmer an der Wand.
***
«Da ist ja Kollege Winter», riss ihn Focks Stimme aus seiner momentanen Abwesenheit, gerade als sich die Umrisse einer neuen Idee formen wollten. Hinter Fock, der wie immer mit schwarzem Zweiteiler und roter Fliege bekleidet war, betrat Sven Kettler den Raum.
«Sie haben die guten Nachrichten noch nicht gehört, nehme ich an?», fragte Fock. Winter verneinte.
«Sie können die restlichen Zeugenvernehmungen abblasen. Kollege Kettler hat ganze Arbeit geleistet. Madame Renate Vogel kann nicht erklären, was sie mit den 5000 Euro Barabhebung gemacht hat. Angeblich hat sie sich liften lassen, aber in der Klinik, wo das gewesen sein soll, weiß man davon nichts. Und das Schönste ist, ihr sauberer Mieter hat jetzt sowieso alles gestanden.»
Winter musste das erst einmal verdauen. Hatten sie nicht vereinbart, die Vernehmung der beiden Verdächtigen erst
nach
den anderen Zeugen zu machen? Aber egal, es schien ja alles gutgegangen zu sein.
«Dann ist ja alles bestens. Und was war das Motiv?»
«Habgier und Rache.»
In dieser Sekunde klingelte Winters Telefon. Reflexartig hob er ab. «Andreas?», kam es vom anderen Ende. «Hier ist Hilal. Ich stehe jetzt in der Tiefgarage mit den beiden Mädchen. Wohin soll ich sie bringen?»
Winter zögerte kurz. Doch er fühlte sich nicht in der Lage, Aksoy lapidar zu sagen, sie könne die Kinder gleich wieder dahin bringen, woher sie sie geholt habe.
«In die V 4 », sagte er und spürte Focks kritischen Blick auf sich.
«Die Vogel-Kinder», erläuterte er, nachdem er aufgelegt hatte. «Ein paar Fragen will ich denen nach all den neuen Erkenntnissen schon noch stellen.»
–
Der fensterlose Spezial-Vernehmungsraum war kindgerecht und in hellen Farben eingerichtet. Doch das half nicht.
Für die kleine Merle Vogel gab es in ihrer Verzweiflung nur ein Thema: Warum sie beide nicht zur Oma
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