Schattenhaus
in Dauerregen übergegangen. Die Suche hatte sich bereits gelohnt: Die mysteriöse fehlende Tasche war aufgetaucht. Eine billige blaue Sport-Umhängetasche. Sie hatte sich im Esszimmer-Sideboard im ersten Stock befunden, wo sie offensichtlich jemand sehr hastig hineingestopft hatte. Leider war sie bis auf ein paar Kekskrümel leer. Doch die SpuSi hatte keine Probleme, Blutspuren an der Tasche sichtbar zu machen.
Während die Suche fortgesetzt wurde, piesackten Winter und Aksoy den Hausherrn zu der Tasche. Angeblich hatte Lord Professor Grafton of Blaby, wie der Mann angeredet werden wollte, die Tasche nur deshalb von der Treppe genommen, weil es seine eigene war und er «fand, dass sie da nicht hingehöre».
«Sie sind doch Archäologe», sagte Winter nach dieser Offenbarung ganz freundlich zu dem Professor. (Er wollte in Aksoys Anwesenheit nicht sofort zu dem greifen, was sie die «Brüll-Methode» nannte und getreu dem Lehrbuch missbilligte.) «Als Archäologe werden Sie doch wohl wissen, dass wir Polizisten den Tatort und den Fundkontext der Leiche exakt dokumentieren, genau wie Sie es bei einer Grabung tun. Sie wussten also, dass Sie die Tasche nicht wegnehmen durften. Weshalb haben Sie es trotzdem getan?»
Das Wort «Fundkontext» hatte Winter neulich in einem Zeitschriftenartikel aufgeschnappt. Der löwenmähnige Star-Professor mit der Adlernase brauchte keine Viertelsekunde, bis er eine Replik bereithatte. «Von Fundkontexten verstehen Sie absolut nichts, mein guter Mann. Nach Ihnen würde wohl ein abgelegter Archäologenpinsel auch zum Fundkontext gehören. Gar nichts verstehen Sie. Und deshalb musste ich die Tasche wegnehmen. Die hätte Sie auf die falsche Fährte gebracht.»
«Auf welche denn?»
«Ja, eben die, dass die Tasche etwas mit diesem verletzten Mann zu tun hat. Dabei ist es meine. Ich habe die wahrscheinlich heute Morgen in meiner Zerstreutheit auf der Treppe liegenlassen. Die lag nur ganz zufällig neben dem Einbrecher.» Grafton lehnte bequem in einem lederbezogenen, klobigen Kolonialstil-Stuhl. Sie befanden sich in einem Raum im zweiten Stock, der mit langen schwarzen Samtvorhängen dekoriert war und anscheinend das Fernsehzimmer darstellte. Zur Tweedhose trug Grafton ein weinrotes Cordhemd. Seine Locken umgaben seinen Charakterkopf wie ein Heiligenschein. Er wirkte zutiefst zufrieden mit sich. Winter und Aksoy saßen gemeinsam auf einem niedrigen Sofa, eine Sitzverteilung, die Grafton psychologisch bevorteilte.
«Der Kollege simst mir gerade», sagte Aksoy, «dass Ihre Frau die Tasche nicht kennt.»
Grafton lachte höhnisch. «Und warum sollte sie?», sagte er. «Meine Frau kann doch nicht jede billige Tasche von mir kennen, in der ich auf einer Wüstengrabung mal sandige Klamotten unterbringe. Ich kenne doch auch nicht jedes Paar Schuhe in ihrem Schrank.»
Er sah drein, als ob er auf Applaus zu dieser Pointe warte.
Winter stand auf, lehnte sich an den Kaminsims. Mit Freundlichkeit kam man hier offensichtlich nicht weiter. «Fakt ist, dass Sie sich betreffs der Tasche wissentlich regelwidrig verhalten haben, und Sie können mir nicht erzählen –»
«Regelwidrig? Mein lieber Herr Kommissar. Die Regeln in diesem Haus bestimme ich.»
Winter musste dieses spezielle Verständnis von
fair-play
einen Moment sacken lassen. Er wollte gerade zu einer Tirade ansetzen, da fragte Aksoy: «Wo haben Sie die Tasche denn gekauft? Der Kollege simst mir jetzt, dass die in Deutschland gar nicht vertrieben wurden.»
«Wissen Sie, gute Frau, ich bin öfter mal im Ausland. Sicher öfter als der arme Irre, den Sie halbtot auf meiner Treppe gefunden haben.»
«Interessant», kommentierte Winter. «Dafür, dass Sie den Verletzten gar nicht kennen, scheinen Sie ganz schön viel über ihn zu wissen.»
«Herrgott, ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich ihn definitiv noch nie gesehen habe», schimpfte Grafton gereizt, und Winter freute sich, ihn zum ersten Mal defensiv zu sehen. «Ich hab bloß gesagt, auf diesem schlechten Handybild mit den ganzen Bandagen erkenne ich den Mann nicht. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass der irgendwann mal Student bei mir war. Ich kann mich doch nicht an jeden Studenten erinnern, den ich jemals hatte.»
«Nein, das ist wie mit den Schuhen Ihrer Frau», sagte Aksoy und grinste. Sie trug zu Winters Verwunderung jetzt im Sommer noch immer einen langärmeligen Rolli – nur aus dünnem Trikotstoff statt aus Wolle. Die Konturen ihres sportlichen BH zeichneten sich
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