Schattenhaus
er. «Wir brauchen das in der klassischen Antike selten. Oft haben wir nur Steine, und die lassen sich nicht datieren. Außerdem weiß man wegen Inschriften oder Münzen meistens schon, um welche Zeit es geht. Natürlich gibt es auch bei uns Datierungsunsicherheiten, nehmen Sie den Trojanischen Krieg …» Der Professor geriet ins Dozieren über die zahllosen archäologischen Schichten in dem türkischen Burghügel, unter dem Schliemann Troja vermutete, und die heiß debattierte Frage, bei welcher dieser Schichten es sich tatsächlich um das homerische Troja handelte und ob wiederum Homers Troja mit dem hethitischen Wilusa identisch war. Winter lauschte fasziniert. Archäologie war ähnlich wie Kriminalarbeit, man hatte Indizien über ein vergangenes Geschehen, man hatte mehr oder minder verlässliche Zeugenaussagen, man musste rekonstruieren. Nach fünf Minuten stoppte Winter den Redefluss des Professors. «Zurück zu Grafton. Halten Sie es grundsätzlich für denkbar, dass dessen Radiokarbondatierungen nicht in Ordnung sind? Wäre es technisch möglich, dass das niemandem auffällt?»
«Kann ich mir nicht vorstellen», murmelte der Professor. Grübelnd kaute er am Pfeifenstil. «Ich hatte allerdings vor einiger Zeit eine Doktorarbeit als Zweitgutachter, da hatte der Doktorand quasi eigenhändig datiert und sehr viel jüngere Daten für einen Fundort der Rautenkeramik herausbekommen als Grafton. Grafton sagte mir damals, das sei eine Pfuscharbeit, der Doktorand hatte das Gerät wohl ohne Aufsicht eines Experten und ohne Eichung benutzt. Um so eine C- 14 -Datierung durchzuführen, muss man hochspezialisiert sein. Das kann ein Doktorand nicht einfach im Alleingang Pi mal Daumen machen.»
«Hieß der Doktorand zufällig André Bründl?»
«Kann sein. Die Arbeit haben wir abgelehnt. Grafton sagt immer, wer nicht zeigt, dass er’s hundertprozentig draufhat, den lässt er nicht durchkommen. Es gebe genügend halbqualifizierte Pfuscher. In der Arbeit war außer der falschen Datierung noch eine Sache mit einem Brunnen, den der Doktorand fälschlich dem Fundensemble zugeordnet hatte.»
«Woher wissen Sie das? Haben Sie die Fundstelle selbst untersucht?»
«Nein, natürlich nicht. Aber Grafton …» Der bärtige Rom-Experte hielt inne, schaute zunehmend entsetzt drein. «Sie wollen doch nicht sagen, dieser Bründl lag richtig mit seiner Datierung, und Grafton wollte ihn deshalb weg vom Fenster haben?»
«Ob das möglich ist, will ich von Ihnen wissen.»
Der Professor stand auf, stellte sich tief in Gedanken vor sein Bücherregal und kehrte Winter den Rücken zu. Schließlich wandte er sich kopfschüttelnd um.
«Das kann eigentlich nicht sein. Es war damals eine solche Sensation, als Grafton behauptete, er hat die mit Abstand älteste Landwirtschaftskultur in Europa entdeckt, ausgerechnet in Norddeutschland. So etwas bleibt doch nicht ungeprüft. Ach, wissen Sie was? Ich weiß, wo ich das nachsehen kann.» Flink setzte Behrwald sich an den Rechner, legte die Pfeife beiseite. «Wir haben hier ein Fundinventar», sagte er. «Von Funden, die von Teams der Goethe-Uni ausgegraben wurden und im Besitz der Uni sind. Da steht immer dabei, ob ein Fund technisch datiert wurde und wann und wo. Ich sehe gerade mal nach, was wir an Rautenkeramik dahaben.»
Auf der langen Liste standen auch die beiden Schädel, die André Bründl hatte entwenden wollen. Sie waren es, mit deren Datierung Grafton 1989 erstmals in die Presse gekommen war. «Wusst ich’s doch», sagte der Professor erleichtert. «Die Datierungen sind in beiden Fällen von unabhängigen Laboren überprüft worden. Beim Kinderschädel war’s die Uni Los Angeles, der Ziegenschädel wurde in Oxford nachgetestet. – Also, die Datierungen von Grafton sind korrekt.»
Damit war Winters Theorie von Graftons Täterschaft gestorben. Er musste ab jetzt ernsthafter in die Richtung ermitteln, dass Grafton selbst das Ziel des Mordanschlags gewesen war, wie es die Kollegen von Anfang an vermutet hatten.
***
Winter hatte sein Stück Kuchen auf der Treppe vorm Casino fertig gegessen und warf den Pappteller in einen Mülleimer, als ihn eine Frau ansprach.
«Sie sind doch Polizist, oder?»
«Ja.» Er sah sie prüfend an, eine Frau um die vierzig im leuchtend roten Kapuzenshirt, die Haare halblang mit etwas Grau um die Schläfen, ein Gesicht mit vielen Lachfältchen.
«Ich hatte Sie gestern mit Herrn Kissling reden sehen. Sie wollten was über Ihre Lordschaft Grafton wissen,
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