Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenhaus

Schattenhaus

Titel: Schattenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
Vom Netzwerk:
es Winter zu viel des Zufalls, dass eine weitere unbekannte Person von außen gekommen sein sollte, ausgerechnet während André Bründl dabei war, Graftons Schrank auszuräumen.
    Winter malte sich den möglichen Tathergang folgendermaßen aus: Bründl klingelt, stellt sich als Student vor, der etwas holen müsse. Frau Tamm lässt ihn ein, aber ruft bei Grafton in der Uni an, um zu fragen, ob der Besuch des Doktoranden seine Richtigkeit habe. Grafton ahnt Übles und macht sich eilig auf den Weg. Die Fahrtdauer vom Grüneburgpark zu Graftons Haus betrug unter fünf Minuten, das hatte Winter getestet. Um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, parkt Grafton in der Schumannstraße und klettert über die Mauer in den Garten. Die Waffe, einen Jagdrevolver, hat er entweder dabei, oder er bewahrt sie im Arbeitszimmer auf. Nachdem er Frau Tamm gefragt hat, ob Bründl noch da ist, er also überhaupt noch Gelegenheit hat, etwas gegen ihn zu unternehmen, beschließt er, erst die Putzfrau zu erschießen, um sie als Zeugin auszuschalten. Er lässt sie am Schreibtisch weiter ihre Arbeit machen und geht zum Schießen raus auf die Terrasse, um den Eindruck zu vermitteln, der Täter sei ein von dort gekommener Fremder. Nachdem Frau Tamm tot ist, begibt Grafton sich eilends in die Diele, wo ihm auf der Treppe Bründl entgegenkommt, der das Haus verlassen will. Grafton schießt auf Bründl, zielt nicht besonders gut, weil Bründl sich bewegt. Doch nachdem das Opfer gefallen ist und reglos liegen bleibt, glaubt Grafton, es tödlich verletzt zu haben. Um sich ein Alibi zu verschaffen, verschwindet er, so schnell er kann. Er beseitigt unterwegs die Waffe und möglicherweise auch Handschuhe und Oberbekleidung, die er während der Tat getragen hat. Dann begibt er sich wieder zur Uni, wo er hergekommen ist.
    Die Voraussetzung dieses Szenarios war natürlich, dass an André Bründls Verdacht etwas dran war, Grafton habe Forschungsergebnisse gefälscht. Nur wenn Grafton etwas zu verbergen hatte, wenn Bründls Pläne ihm ernsthaft schaden konnten, hatte er ein plausibles Motiv für ein derart kaltschnäuziges Gewaltverbrechen.
    Drei Tage hatte Winters Team nun auf dem Unicampus im Grüneburgpark Leute befragt. Grafton selbst gab als Alibi an, am Tattag um kurz nach elf wegen eines Forschungsprojekts bei einem Kollegen vorstellig geworden zu sein. Der Kollege konnte sich erinnern, dass Grafton da war, doch seine Zeitangabe lautete: «um die Mittagszeit, eher nach zwölf». Eine eingeschüchtert wirkende Sekretärin beteuerte, Grafton sei am Tattag von zehn bis vierzehn Uhr ununterbrochen im Institut gewesen. Das Sekretariat lag allerdings um mehrere Türen und eine Flurecke entfernt von Graftons Büro. Die Sekretärin konnte auf Nachfragen keine Angabe machen, woher sie wisse, dass ihr Chef die ganze Zeit über da gewesen sei. Ein- oder zweimal hatte sie ihn wohl während des Vormittags gesehen, aber wann dies genau gewesen war, wusste sie nicht mehr.
    An Graftons Schuhen hatten sich Blut- bzw. Gewebespuren beider Opfer gefunden. Doch das sagte wenig, weil der Professor – klugerweise, falls er der Täter war – am Nachmittag nach Ankunft der Polizei im Erdgeschoss der Villa umhergelaufen war, quer durch die von den Rettungssanitätern überall verteilten Spuren.
    Winter hatte also gegen Grafton keine stringenten Sachbeweise in der Hand. Der Einzige, der definitiv wusste, wer der Täter war, lag im Koma. Die Ärzte machten inzwischen wenig Hoffnung, dass sich das jemals ändern würde. Jetzt wankte leider auch das eine, was überhaupt ernsthaft gegen Grafton sprach: das Motiv. Eben hatte Winter in der Sache der Radiokarbondatierungen mit einem Archäologenkollegen von Grafton gesprochen, einem Experten für die römische und griechische Antike. Der Mann hieß Behrwald, war ein Pfeifenraucher mit langem Vollbart und dem Look eines Philosophen des 19 . Jahrhunderts. «Zitieren Sie mich nicht!», hatte Behrwald begonnen. «Aber wenn Sie meine Privatmeinung hören wollen: Grafton wird überschätzt, der produziert mehr heiße Luft als ernsthafte Forschung. Er hatte bloß Glück, dass er mit einem außergewöhnlichen Fund und einer Sensationsdatierung bekanntgeworden ist.»
    «Wäre es denn möglich, dass eben diese Sensationsdatierung falsch ist?», hatte Winter gefragt.
    Professor Behrwald kaute an seiner kalten Pfeife. Im Haus herrschte Rauchverbot. «Ich kenne mich ehrlich gesagt mit der Radiokarbonmethode nicht besonders gut aus», begann

Weitere Kostenlose Bücher