Schattenherz
heraus. »Wir sagen einfach, du wärst mein kleiner Bruder, okay?«
Malin nickte, zog die Schultern hoch und vergrub die Hände in den Taschen in der Hoffnung, auf diese Weise noch ein bisschen jungenhafter zu wirken.
Ich weià nicht, was mit ihm los ist , hatte sie am Abend zuvor Dakota anvertraut, während Anatol zum Einkaufen unterwegs war. Ich glaube, er hatte Angst. Ehrlich, Dakota, er hatte Angst, allein ins Dorf zu gehen. Und zwar nicht, weil die uns vielleicht suchen, sondern einfach so. Aber als ich gesagt hab, dass ich mitkomme, wollte er das auch wieder nicht.
Ich glaube, weil er sich irgendwie ⦠irgendwie schämt wegen seiner Angst.
Aber er will partout nicht darüber reden. Immer weicht er mir aus oder antwortet einfach nicht.
Dakota, ich weià nicht, was ich davon halten soll! Ich hab keine Ahnung, warum er das alles mit mir durchzieht!
Am Ende landet er noch im Knast! Mit ihm zusammen bei uns einzubrechen, ist die reinste Schnapsidee! Ich hätt ihm gar nicht erst davon erzählen sollen! Das muss ich auf jeden Fall alleine durchziehen; obwohl ⦠Ich darf gar nicht darüber nachdenkenâ¦
Wenn Helmut aus irgendwelchen Gründen zu Hause ist und mich erwischt, kann er einfach auf mich schieÃen! Ich weiÃ, dass er âne Pistole oder ânen Revolver â oder wie auch immer man das nennt â in seiner Schreibtischschublade hat. Und wie ich ihn kenne, hat er dafür sogar ân Waffenschein. Peng und Feierabend. »Herr Kommissar, es war dunkel und ich hab sie nicht erkannt.« Eindeutig Notwehr. Und das Problem Malin ist gelöst.
Anatol hatte lange gebraucht, bis er zurückkam. Nach dem Essen â lauwarme Hamburger mit kalten Pommes â hatte sie ihm ein bisschen mehr von zu Hause erzählt. Dass das Haus â oder besser: die Villa â den Eltern ihres GroÃvaters gehört hatte und dass sie sich nur noch vage an ihre GroÃmutter erinnern konnte. »Sie war lieb zu mir. Und ich glaube, Helmut am Anfang auch. Aber nachdem die Oma gestorben war, hat er sich total verändert. Ich war heilfroh, ins Internat zu kommen. Gleich nach der vierten Klasse.«
»Hat dein Stiefvater dich ⦠misshandelt oder so?«
Malin schüttelte den Kopf. »Nee. Im Gegenteil. Er hat gar nichts getan. Ich war meistens einfach Luft für ihn. In den Ferien war ich regelmäÃig allein; am Anfang noch jedes Mal mit ânem anderen Kindermädchen. Als ich sechzehn wurde, war auch das vorbei. Manchmal ist Nico für ein paar Tage zu Besuch gekommen â¦Â«
»Nico?«
»Mein Adoptiv-Bruder sozusagen. Helmuts Sohn. Seine Mutter ist früh gestorben. Aber in den letzten zwei Jahren hab ich Nico kaum noch zu Gesicht gekriegt. Und meinen sogenannten Vater sowieso nicht.«
»Ist es nicht immer noch besser, überhaupt einen Vater zu haben statt gar keinen?«, fragte Anatol, ohne sie anzusehen. Er schien mit seinen Gedanken plötzlich ganz woanders zu sein.
»Wie kommst du denn darauf? Jeder hat doch einen Vater!« Sie hielt erschrocken inne. »Oderâ¦. oder bist du im Reagenzglas ⦠Ich meine: Kennst du deinen Vater nicht, weil du irgendwie über âne Samenbank und so gezeugt worden bist?«
Anatol lachte bitter auf. »Nee. Ganz sicher nicht!«
»Sondern?«
Lange Pause. »Nicht jetzt, okay?«
Malin ging in Gedanken alle Versionen von Anatols Geschichte durch, die ihr spontan einfielen.
Vielleicht hatte seine Mutter mehrere Lover gleichzeitig und wusste deshalb nicht, von wem das Kind war? â Aber das lieÃe sich doch per DNA-Test feststellen. Oder vielleicht war Anatols Vater verheiratet und seine Mutter hat aus Rücksicht »Vater unbekannt« beim Jugendamt angegeben.
Sie beschloss, das Thema zu vertagen.
Hinter der AuÃentoilette befand sich ein kleiner Schuppen für Gartengeräte. Als es Nacht wurde, holte Anatol eine Schubkarre daraus hervor und stellte sie hochkant innen vor die Tür. »Dann hören wir sofort, wenn jemand sich hier reinschleichen will.«
AnschlieÃend hatten sie sich in diskretem Abstand voneinander zum Schlafen hingelegt. Das alte Gemäuer war feucht und im Lauf der Nacht wurde es trotz der tagsüber herrschenden Sommerhitze empfindlich kühl.
Wenn wir uns dicht nebeneinanderlegen würden, wäre uns ganz schnell warm. Aber Anatol ist schlieÃlich nicht mein Freund, sondern â¦
Malin hatte die halbe Nacht
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