Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenherz

Schattenherz

Titel: Schattenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Bliefert
Vom Netzwerk:
wach gelegen und versucht, die Beziehung zu ihm irgendwo auf einer Skala zwischen Kumpel und Lover einzuordnen. Schließlich hatte sie es aufgegeben.
    Der erste Wagen, der anhielt, war eine uralte Familienkutsche, die der Sohn der Familie geerbt hatte, als er zu studieren anfing. Jedenfalls ging das aus seinem Endlos-Monolog hervor. »Ich studier Angewandte Freizeitwissenschaften«, erklärte er, »total super! Also, da geht’s nicht nur um Management und Marketing und so. Da muss man auch knallhart was von Psychologie verstehen! Man muss quasi in die Köpfe von den Leuten kriechen und rausfinden, was die so wollen. In ihrer Freizeit, mein ich. Ich hatte bei meinem Praktikum so ’ne Rentnertruppe zu bespaßen und da hab ich mir gesagt, Thomas, hab ich gesagt, bei denen ist vielleicht nicht mehr so rasend viel los unter Glatze und Dauerwelle, aber ob du willst oder nicht: Da musst du rein, in den Schädel von den Alten, und da musst du rausfinden…«
    Malin und Anatol ließen Thomas’ Vortrag geduldig über sich ergehen, froh, auf diese Weise nichts von sich erzählen zu müssen.
    Als sie auf die Bundesstraße einbogen, ging Thomas weiter ins Detail: »Also, ich schreib gerade ’ne Arbeit über Bungee-Jumping. Wusstet ihr, dass das von ’nem total abgefahrenen Eingeborenen-Ritual herstammt?«
    Malin und Anatol schüttelten in Erwartung weiterer Belehrungen demütig den Kopf.
    Â»Ist aber so!«, triumphierte Thomas. »Die heißen Sa! Und die springen sozusagen rituell, versteht ihr? Sind Melanesier!«
    Â»Toll«, bestätigte Malin, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo sich ein Land namens Melanien oder Melanesien befinden könnte.
    Natürlich ließ Thomas’ Antwort auf die nicht gestellte Frage keine Sekunde lang auf sich warten: »Melanesier leben vor Australien auf diesen Winz-Inseln.« Er lachte und warf im Rückspiegel einen Blick auf Anatol. »Sind die einzigen Dunkelhäutigen, bei denen es blonde Haare gibt! Irre, oder? Weißblond. So wie deine!«
    Anatol sagte »Ach?« und weiter ging’s mit Thomas’ Monolog: »Also diese Sa springen einmal im Jahr von so ’nem selbstgebauten Holzturm runter, weil der Überlieferung zufolge mal ’n Typ seiner Alten hinterher ist, weil er dachte, die würde fremdgehen. Die Frau ist dann auf ’n hohen Baum hoch, hat ’ne irre Show abgezogen von wegen Adedu-schöne-Welt und ist gesprungen. Der Typ – dämlich, wie er ist – springt hinterher, weil er ohne seine Alte nicht mehr leben will. Und was ist? Die Tussi hatte sich klammheimlich ’ne Liane ums Bein gebunden und ist auf diese Weise – ich nehm mal an, mit ’ner saftigen Zerrung im Sprunggelenk – heil davongekommen. Der Alte: tot! Und sie: frei für ihren Lover! Bingo! Irre, oder?«
    Â»Und wo ist da der Grund zum Feiern?«, fragte Anatol.
    Thomas zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Vielleicht war die clevere Alte ja eine von diesen dunkelhäutigen Natur-Blondinen und man feiert da so ’ne Art umgekehrten Blondinenwitz.«
    Malin grinste. Der Typ war zwar nervtötend und rassistisch obendrein, aber auf der anderen Seite erzählte er Dinge, über die man als Normalsterblicher wahrscheinlich nie etwas erfahren hätte.
    Â»Wie dem auch sei: Ich find Bungee-Jumping cool«, schloss er das Kapitel ab, um gleich darauf zum – seiner Ansicht nach »irre spannenden« – Thema »Neue Wege für Animateure in Ferienclubs« überzugehen.
    Â»Dafür, dass er hier zwei Psychiatrie-Insassen durch die Gegend karrt, benutzt er reichlich oft das Wort irre«, wisperte Malin amüsiert.
    Anatol verzog keine Miene.
    Â»Ist irgendwas?«, fragte Malin besorgt.
    Â»Nee. Alles okay.«
    Das wirkte nicht sehr glaubwürdig.
    Während Thomas zum Thema »Genderspezifische Unterschiede im Freizeitverhalten erholungsbedürftiger Pauschaltouristen« überging, wurde Malin klar, dass es sich bei der Geschichte von den rituell bungee-jumpenden Insulanern eigentlich um einen tragischen Selbstmord handelte. Dazu auch noch aus Liebeskummer! Sofort fiel ihr die Rose namens Leander und die tragische Geschichte von Heros und Leanders Liebestod ein, die Anatol ihr erzählt hatte.
    Ich hab ihn noch nie gefragt, warum er eigentlich einen Suizidversuch nach dem anderen gemacht hat. Lebensmüde kommt er mir eigentlich nicht

Weitere Kostenlose Bücher