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Schattenherz

Schattenherz

Titel: Schattenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Bliefert
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winzige Tier, eingeschlossen in einer dicken honiggelben Perle.
    Ihre Mutter trug die Bernsteinkette auf dem Hochzeitsfoto ihrer Eltern, dem einzigen Bild der beiden, das Malin besaß. Ihr Vater – groß, schmal und mit lockigen dunklen Haaren, lächelte ein wenig unsicher in die Kamera. Ihre Mutter – gut einen Kopf kleiner als ihr Mann – hatte die langen Haare hochgesteckt und anstelle eines Schleiers einen Kranz aus Wildblumen im Haar. Der weite Rock ihres schlichten hellen Sommerkleides wurde vom Wind hochgepustet und sie lachte ausgelassen. Der Schmuck um ihren Hals wollte nicht so recht in dieses lockere Bild passen: ovale Bernsteinperlen, die von der Mitte ausgehend immer kleiner wurden; ein ganz und gar unmodernes Teil; wahrscheinlich ein Erbstück. Und in der mittleren, dicksten Perle war jenes Insekt eingeschlossen.
    Malin konnte das Muster ihrer Kinderzimmertapete bis ins kleinste Detail beschreiben, und die Bilder jenes Ostermorgens, an dem sie als etwa Dreijährige im Garten Schokoladeneier gesucht hatte, sah sie so deutlich vor sich, als ob es gestern gewesen wäre. Aber wann immer sie versuchte, sich eine Erinnerung an ihre Mutter ins Gedächtnis zu rufen, blieben nur das Bild jener faszinierenden, dicken gelben Bernsteinperle und das Lied, das ihre Mutter dazu gesungen hatte.
    Â»Summ, summ, summ, Mückchen summ herum …«
    Danach fiel Malin das Schreiben leichter. Sie blieb beim Siezen und vermied die direkte Anrede.
    Als sie am Ende des Briefes den Vorschlag machen wollte, an einem der nächsten Besuchstage zu einem persönlichen Gespräch ins Gefängnis zu kommen, wurde ihr schlagartig bewusst, dass ein Knastbesuch ohne Ausweis gar nicht möglich war. Sie hatte vor anderthalb Jahren zusammen mit anderen Schülern der Sozialkunde-AG den Jugendknast in Hameln besucht. Daher wusste sie, wie streng die Vorschriften waren und dass Ausnahmen nicht geduldet wurden. Nur: Ihr Personalausweis war – genau wie Anatols – in der Klinik zurückgeblieben.
    Das heißt, er kann auch nicht hin.
    Bleibt nur Kelly.
    Shit.
    Während Malin nachdenklich auf ihrem Stift herumkaute, stand ihre Mutter zusammen mit fünf weiteren JVA-Insassinnen in der gefängniseigenen Sanddornplantage und schnitt die gerade erntereifen Fruchtstände ab. Wie die anderen trug sie weite blaue Latzhosen und robuste Arbeitshandschuhe. Sie hatte die Ärmel ihres Holzfällerhemdes trotz der langen, spitzen Stacheln an den Büschen hochgekrempelt und mit dem verwaschenen roten Bandana auf dem Kopf sah sie aus wie die Heldin einer amerikanischen Farmer-Serie der Siebzigerjahre. Während sie die dicht an dicht mit orangefarbenen Beeren besetzten Zweige abschnitt, summte sie leise vor sich hin.
    Â»Na, Chrissie? Bist ja heute obergut gelaunt!«, brummte Rita Wenzel. Die mollige Mittvierzigerin knuffte Christina Kowalski halb liebevoll, halb tadelnd in die Seite. »Gibt’s da was, das ich nicht weiß, aber lieber besser wissen sollte?« Ihr Dialekt wies Rita zweifelsfrei als Thüringerin aus, womit sie sich – nicht zuletzt auch wegen ihrer pummeligen Figur – den Spitznamen Würschtl eingehandelt hatte.
    Â»Ach, ich wollt’s dir ja eigentlich ’n bisschen schonender beibringen …« Christina zögerte. »Aber so ist das halt: Des einen Freud, des anderen Leid.«
    Â»Nee, oder?« Ihre Zellennachbarin ließ die schwere Gartenschere sinken. »Heißt das…?«
    Christina nickte. »Ja. Ist zwar noch nicht ganz in trockenen Tüchern, aber wenn alles gut geht, komm ich demnächst in den offenen Vollzug. Und das heißt, ich bin über kurz oder lang hier raus!«
    Â»Fuck.«
    Aus Ritas Mund klang das regelrecht putzig.
    Â»Aber ich versprech dir, ich werd dich besuchen«, setzte Christina hastig hinzu.
    Â»Jaja, das sagen se alle.«
    Â»Och, Würschtlchen! Nun sei doch nicht gleich wieder eingeschnappt! Komm mal her.«
    Widerstrebend ließ sich die kleine, dicke Frau von ihrer Mitgefangenen in den Arm nehmen.
    Â»Blöde Kuh«, murmelte sie, aber als Christina Kowalski die Umarmung löste, war sie bereits wieder halbwegs versöhnt.
    Â»Und?«, wisperte sie verschwörerisch. » Machste den Arsch diesmal richtig platt?«
    Â»Was? Wie meinst du das?«
    Â»Na, man kann doch nicht wegen ein und demselben Mist zwei Mal verknackt werden! Dann kannste doch diesmal Nägel mit Köppen

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