Schattenherz
entwarf mit unglaublichem Eifer eine fiktive Facharbeit, die die Notwendigkeit eines Interviews mit Malins Mutter zumindest denkbar erscheinen lieÃ.
»Am geschicktesten ist, wenn ich behaupte, ich würd âne Arbeit über Intimizid und Strafzumessung schreiben. Das ist ân Thema ohne Ende. Und da hat sich in den Jahren, die deine Mutter im Knast sitzt, ja auch jede Menge verändert. Haustyrannenmord zum Beispiel. Ist letztlich âne reine Auslegungssache. Und dazu gibt es, soweit ich mich erinnere, bisher nur âne vergleichende Studie von der Uni Freiburg und â ich glaube â vom Max-Planck-Institut. Muss ich googeln.«
»Wow!«
»Hört sich gut an.«
Malin und Anatol waren beeindruckt. An ihren Gesichtern war allerdings mehr als deutlich abzulesen, dass sie keine Ahnung hatten, wovon Kelly da redete.
»Okay. Kapiert.« Kelly seufzte und rollte theatralisch die Augen. »Also für die Doofen und Unwissenden, denen ganze Heerscharen von Anwälten ihr gutes Einkommen verdanken: Ein Mord ist ein Mord ist ein Mord, und dafür gibtâs normalerweise lebenslänglich. Aber im Fall eines sogenannten Haustyrannenmordes kann gemäà Paragraph 49 I Satz 1 Strafgesetzbuch eine mildere Strafe ausgesprochen werden. Das heiÃt, wenn eine Frau jahrelang von ihrem Lover oder Ehemann misshandelt worden ist und sie ihm irgendwann, während er pennt, das Tranchiermesser in den Herzbeutel rammt, geht man â obwohl der Alte in dem Fall ja wehrlos war â von einer Quasi-Notwehrsituation aus. Hängt vom Richter ab, kann aber im Zweifelsfall sogar ânen Freispruch nach sich ziehen.«
»Und meine Mutter �«
»Deine Mutter hätte vielleicht irgendwas ins Feld führen können, das strafmildernd gewirkt hätte.« Kelly zuckte die Achseln. »Seelische Gewalt, sexuelle Gewalt ⦠Was weià ich. Jedenfalls irgendwas, bei dem sich der Richter gesagt hätte: Der Mistkerl hatte es nicht anders verdient!« Sie kicherte. »Kennt ihr den Spruch? Wenn Frauen zu lange ein Auge zudrücken, tun sieâs irgendwann nur noch, um zu zielen!«
Malin lächelte, aber eigentlich war ihr nicht nach flotten Sprüchen zumute. »Kann ja alles sein. Nur, wenn ich das richtig verstanden habe, hat Helmut doch ausgesagt, dass meine Mutter und er ein Herz und eine Seele waren.«
»Na und? Aussage gegen Aussage. Und irgendein Motiv, ihren Lover zu vergiften, muss sie ja wohl gehabt haben. Ihr Anwalt hätte ihr doch sonst spätestens in der Revision geraten, alles zuzugeben, um wenigstens das Strafmaà zu mildern. Stattdessen hat sie trotz der Beweislage immer nur geleugnet, geleugnet, geleugnet. Und rausgekommen ist lebenslänglich.«
»Aber wenn sieâs nicht war? Vielleicht ist sie ja wirklich unschuldig!«
Kellys Blick war deutlich zu entnehmen, wie unwahrscheinlich ihr das erschien. Sie zuckte erneut die Achseln. »Genützt hatâs ihr jedenfalls nicht, darauf zu bestehen.«
Sie raffte die Zeitungsartikel, die Malin ihr gegeben hatte, schwungvoll zusammen und nahm mit völliger Selbstverständlichkeit Malins hübschen, kleinen Schreibplatz in Beschlag. »So, und jetzt lasst mich in Ruhe arbeiten! Da ist doch bestimmt jemand dabei, wenn ich das Interview führe. Also werd ich mir jetzt erst mal ânen erstklassigen, hoch wissenschaftlichen Fragenkatalog ausdenken!«
»Ich werd aus Kelly nicht schlau«, sagte Anatol in einer der wenigen Minuten, die ihm und Malin für Gespräche unter vier Augen blieben. »Einerseits ist sie manchmal schreiend naiv und völlig unfähig, sich in die Gefühle anderer Menschen zu versetzen, und dann springt sie plötzlich wieder mit aller Macht für uns in die Bresche.«
Malin nickte. »Ja. Aber wahrscheinlich kommen wir beide ihr genauso seltsam vor wie sie uns. Wie von ânem anderen Planeten.«
Anatol nickte. »Komisch, dass sie nie was von sich erzählt. Das Einzige, was wir von ihr wissen, ist, dass sie zwanzig, hetero und Single ist, Jura studiert und in ihrer Freizeit Geocaching betreibt.«
»Und dass sie offenbar keinerlei finanzielle Probleme hat.«
»Die hast du, wenn ich das alles richtig verstanden habe, ab dem zwanzigsten September auch nicht mehr.«
»Richtig. Wenn man mich den zwanzigsten September noch erleben lässt.«
»Ja, die Uhr tickt. So ist das nun mal, Papa. Und das weiÃt
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