Schattenherz
sie sich fragen, ob es nicht eine bessere Möglichkeit gab, die Massen zu warnen. »Hättest du gestern abend nicht Ausrufer durch das Lager schicken können? Das wäre einfacher gewesen.«
»Daran habe ich auch gedacht«, gestand Gaborn ein. »Aber ich wollte es unbedingt beobachten. Ich hatte noch nie mehr als ein paar Menschen auf einmal angesprochen. Ich wollte sehen, was passiert, wenn ich eine ganze Stadt aufrüttele, ich mußte herausfinden, wie man es am besten macht.«
Er zeigte nach unten auf die brodelnde Masse aus
einstürzenden Zelten und fliehenden Bürgern. »Siehst du, was geschieht? Viele der Menschen, die in der Nähe des Flusses kampiert haben, stammen aus West Heredon und werden jetzt auf dem Weg nach Hause jeden im Lager niedertrampeln.
Und dort unten, siehst du das rote Zelt, vor dem die Kinder weinen? Ihre Eltern sind ohne sie geflohen! Ich finde den Gehorsam ihrer Eltern löblich, allerdings hatte ich auf eine etwas überlegtere Reaktion gehofft.
Den Mann und die Frau im Zelt nebenan dagegen habe ich Erwählt, und keiner von beiden hat, soweit ich das erkennen kann, bis jetzt irgendwelche Anstalten gemacht, auch nur aus dem Bett zu steigen! Ich nehme an, sie packen, doch was, wenn die Bedrohung unmittelbarer wäre? Soll ich sie für ihr besonnenes Verhalten loben, oder werden sie eines Tages daran zugrunde gehen?
Und sieh, dort oben haben viele Menschen bereits den Rand des Dunnwaldes erreicht, laufen verwirrt im Kreis umher und wissen nicht, was sie als nächstes tun sollen, während andere vermutlich erst zu rennen aufhören werden, wenn sie erschöpft zusammenbrechen. Wer von ihnen hat recht? Die, die meine Befehle wortgetreu befolgen, oder die, die zu erbittert handeln?
Und da drüben, siehst du die alte Frau, die mit aller Macht zu entkommen versucht? Sie muß an die Neunzig sein. Sie kann unmöglich mehr als zwei Meilen am Tag laufen. Glaubst du, jemand wird ihr helfen?«
Gaborn stand vor Entsetzen und Staunen der Mund offen, während er den wimmelnden Herd menschlicher Schwächen betrachtete.
Jetzt verstand Iome, warum er das tun mußte. Seine Macht war ihm noch so neu, so unvertraut, daß er nicht recht damit umzugehen wußte, und das konnte er sich nicht leisten. Seine Kraft glich einem Schwert, einer Waffe, die nur dann von Nutzen war, wenn der Arm, der sie führte, exakt parieren und angreifen konnte. Im Augenblick übte er.
Und von seinen Fertigkeiten hing viel ab – das Leben jeden Mannes, jeder Frau und jeden Kindes in diesem gewaltigen Gedränge.
Plötzlich erscholl seine Stimme erneut in ihrem Kopf.
»Beruhigt euch. Ihr habt den ganzen Tag Zeit. Tut euch zusammen. Bringt die Alten, die Kinder und die Kranken in Sicherheit. Entfernt euch bis zum Einbruch der Nacht so weit wie möglich von der Burg.«
Damit ebbte die Verwirrung plötzlich ab. Die Menschen hielten einen Augenblick inne und sahen zu Gaborn hoch.
Nach wie vor wurden Zelte und Pavillons mit erstaunlicher Geschwindigkeit abgerissen, doch jetzt liefen die Eltern zurück zu ihren Kindern, während Junge daran gingen, den Älteren zu helfen. Iome brauchte sich nicht mehr zu sorgen, die Menschen vorne könnten unter den Füßen ihrer Mitmenschen totgetreten werden.
Gaborn nickte anerkennend, drehte sich zu Iome um und nahm sie in die Arme.
»Brichst du jetzt auf?« fragte sie, obwohl sie nicht wollte, daß er ging.
»Ja«, gab er zurück. »König Orwynne und die anderen sind bereits aufgesessen, und wir haben heute einen langen Weg vor uns. Nur wenige Pferde werden ein solches Tempo gehen können. Ich habe Boten zu Königin Herrin der Roten und weiter nach Beldinook geschickt und dort anfragen lassen, ob man uns für einen Tag aufnehmen kann. Wir werden ohne Köche und Troß reisen.«
Iome nickte. Es würde ein harter Marsch werden, ohne Köche oder Waschfrauen, ohne Zelte oder Knappen, die sich um die Rüstungen und Tiere kümmerten. Doch wenn sie schnell vorankommen wollten, würden sie sich ohne sie behelfen müssen. In schweren Zeiten wie diesen würde es kein Lord wagen, ihm die Verköstigung seines Gefolges abzuschlagen. Sie würden froh sein über die Verstärkung, und ein Abendessen und die Unterkunft für eine Nacht wären ein nur geringer Preis dafür.
Dann stellte Gaborn eine unerwartete Frage. »Willst du mit mir reiten?« Es war nicht üblich, daß ein Lord seine Gemahlin in den Krieg mitnahm, allerdings war es unter Lords auch nicht üblich, daß eine Frau ihren Gatten während der
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