Schattenherz
der mächtigste Runenlord von uns allen. Kämpfe ich gegen ihn, werden wir vielleicht alle getötet. Beachte ich ihn nicht, dann tue ich das ganz sicher auf eigenes Risiko. Versuche ich, vor ihm davonzulaufen, wird er mich gefangennehmen. Ich sehe nur eine Alternative…«
»Soll das heißen, du würdest von deiner Kraft Gebrauch machen, um ihn zu Erwählen? Nach allem, was er angerichtet hat?« Iome gelang es nicht, das Entsetzen und die Verärgerung in ihrer Stimme zu verbergen.
»Ich hoffe, einen Waffenstillstand zu erzielen«, gestand Gaborn ein, und seinem Ton entnahm sie, wie endgültig seine Entscheidung war. »Ich habe bereits mit Jureem über diese Möglichkeit gesprochen.«
»Raj Ahten wird dir keinen Waffenstillstand gewähren«, stellte Iome entschieden fest. »Nicht, solange du die Zwingeisen nicht zurückgibst, die dein Vater mit seinem Leben errungen hat. Und das wäre kein Waffenstillstand, sondern eine Kapitulation!«
Gaborn nickte und blickte sie ruhig und gelassen an.
»Begreifst du nicht?« setzte Iome hinzu. »Es wäre nicht einmal eine ehrenhafte Kapitulation, denn hast du die Zwingeisen erst einmal zurückgegeben, wird Raj Ahten sie gegen dich verwenden. Ich kenne meinen Vetter. Ich kenne ihn. Er wird dich nicht in Frieden lassen. Daß die Erde dir die Herrschaft über die Menschheit gegeben hat, bedeutet noch lange nicht, daß auch Raj Ahten dir diese Ehre zugesteht.«
Gaborn knirschte mit den Zähnen und erweckte den
Eindruck, als wollte er sich abwenden. Sie sah die Zer-rissenheit in seinem Gesicht. Sie wußte, wie sehr er sein Volk liebte, daß er es nach bestem Vermögen beschützen wollte und er in diesem Augenblick keine Möglichkeit sah, Raj Ahten zu Fall zu bringen.
»Ich muß ihn trotzdem um einen Waffenstillstand bitten«, erwiderte Gaborn. »Und wenn kein Waffenstillstand erzielt werden kann, dann… muß ich um die Bedingungen für eine ehrenhafte Kapitulation ersuchen. Erst wenn deren Bedingungen sich als unannehmbar erweisen, werde ich gezwungen sein zu kämpfen.«
»Eine Kapitulation kommt nicht in Frage«, protestierte Iome.
»Mein Vater hat kapituliert, und sofort darauf hat Raj Ahten die Bedingungen ganz nach seinem Gutdünken verändert. Du kannst nicht Raj Ahtens Übereigner und Erdkönig sein!«
»Ich fürchte, du hast recht.« Gaborn seufzte. Dann trat er zu ihr, setzte sich neben ihr aufs Bett und ergriff ihre Hand. Ein schwacher Trost.
»Warum kannst du ihn nicht einfach töten?« wollte Iome wissen. »Dann hättest du es hinter dir.«
»Raj Ahten hat möglicherweise zehntausend Kraftkrieger in seinen Diensten«, erläuterte Gaborn. »Sogar, wenn ich ihn besiege und dabei halb so viele Männer verlöre, wäre es das wert? Denk darüber nach, Frau, viereinhalb Millionen Kinder!
Kann ich wissentlich auch nur das Leben eines einzigen von ihnen einfach verschwenden? Wer wagt außerdem zu
behaupten, es habe damit ein Ende? Wäre es nach dem Verlust so vieler Krieger überhaupt noch möglich, die Greifer aufzuhalten?«
Plötzlich wurde Gaborn still. Er hielt einen Finger an seine Lippen, bedeutete Iome, nichts zu sagen, dann trat er an König Sylvarrestas alten Schreibtisch, zog ein kleines Buch aus der obersten Schublade und begann einige Blätter hervorzuziehen, die im Einband verborgen waren.
Er brachte sie hinüber zu Iome und sagte leise: »Im Haus des Verstehens, im Saal der Träume, werden die Days auf diese Weise über das Wesen von Gut und Böse unterrichtet.« Iome war überrascht. Die Lehren der Days blieben den Runenlords gewöhnlich verwehrt. Jetzt wußte sie auch, weshalb er so leise gesprochen hatte. Die Days standen unmittelbar vor der Zimmertür.
Gaborn zeigte ihr das folgende Diagramm:
Die drei Sphären des Menschen
»Jeder Mensch sieht sich als Lord«, erläuterte Gaborn, »und herrscht über drei Sphären: die unsichtbare, die
gemeinschaftliche und die sichtbare.
Jede dieser Sphären kann aus vielen Teilen bestehen. Die Zeit eines Menschen, seine Körperaura, sein freier Wille, das alles sind Teile seiner unsichtbaren Sphäre, wohingegen alle anderen Dinge, die er besitzt, alle, die er sehen kann, zu seiner sichtbaren Sphäre gehören.
Wenn nun jemand unsere Sphäre verletzt, so nennen wir ihn böse. Trachtet er nach unserem Land oder unserem Gemahl, trachtet er danach, unsere Gemeinschaft zu zerstören oder unseren guten Namen, macht er schlechten Gebrauch von unserer Zeit oder versucht er, uns den freien Willen streitig zu
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