Schattenherz
auf Burg Haberd, das alles hinterließ bei ihr ein lähmendes, bedrückendes Gefühl.
Am liebsten hätte sie geschrien.
Statt dessen biß sie sich auf die Lippe und ging an die Arbeit.
Während sie die Wunde wusch, war Averan sich darüber im klaren, daß diese an Rolands Handgelenk wie ein
Hornissenstich gebrannt haben mußte. Die Verletzung war tief, die Ränder ausgefranst, und es blutete stark. Sie war zu einem Brunnen neben der Kate gegangen, hatte in einem Eimer Wasser geholt, es über die Wunde gegossen und sie abgetupft. Er unterdrückte einen Aufschrei, während sich die grüne Frau gierig bettelnd wie ein Hund näherte.
»Nein«, warnte Averan die grüne Frau. »Der hier ist nicht für dich.« Baron Poll griff zur Axt und schwenkte sie bedrohlich.
Die grüne Frau zog sich zurück.
Roland lachte jämmerlich. »Danke, Kind, daß du mich nicht an dein Haustier verfüttert hast.« Averan war mit dem Säubern der Wunde fertig. Schon beim vorsichtigsten Tupfen ging sie wieder auf, und jetzt verwendete sie Rolands Jacke als Kompresse.
»Sie ist nicht mein Haustier«, widersprach Averan.
»Versuch ihr das mal zu erklären«, gab Baron Poll zurück.
»Noch eine halbe Stunde, dann wälzt sie sich vor dir auf dem Rücken und versucht, sich heimlich in dein Bett zu
schleichen.«
Averan wußte, sie hatten recht. Die grüne Frau hatte sie von jenem Augenblick an anerkannt, da sie aufgewacht war und festgestellt hatte, daß Averan über ihr kniete. In dieser Hinsicht benahm sie sich wie ein junger, frisch aus dem Ei geschlüpfter Graak. Aber nur weil der Baron recht hatte, hieß das noch lange nicht, daß sie ihn mögen mußte. Schließlich hatte dieser Dummkopf Ledernacken getötet.
Die grüne Frau hält mich für ihre Mutter, erkannte Averan. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie bloß mit dem Tier anstellen?
»Hast du das Tier beschworen?« wollte Baron Poll wissen.
»Beschworen?« fragte Averan.
»Nun, es handelt sich schließlich nicht um ein natürliches Wesen, oder?« erklärte Baron Poll, derweil er die grüne Frau aufmerksam beäugte. »Von einem solchen Wesen habe ich noch nie gehört. Es muß also beschworen worden sein.«
Averan zuckte die Achseln. Baron Polls Frage war dumm.
Abgesehen davon, was man gelegentlich von einem
Heckenzauberer erfuhr, hatte sie von Magie keine Ahnung. Im Bergfried Haberd waren nur selten Gäste mit Macht bewirtet worden.
»Es ist das Grün des Feuers«, vermutete Roland. »Flammen können manchmal grün aussehen. Hast du Macht über das Feuer?«
Die grüne Frau erhob sich aus der Hocke, ging zu
Ledernackens Kadaver hinüber und fing an zu fressen. Averan wandte sich angewidert ab.
»Nein«, erwiderte Averan mechanisch. »Gelegentlich
entzünde ich das Feuer im Kamin unseres Horsts. Ich kann es gerade eben am Brennen halten. Ich bin kein Flammenweber.«
Mit einem Zipfel von seiner Jacke wischte sie ihm den letzten Blutrest aus der Wunde. »Auch die Erde kann grün sein«, sagte sie. »Genau wie Wasser.« Sie blinzelte eine Träne aus ihrem Auge.
Roland antwortete darauf nicht, dafür aber Baron Poll.
»Recht hast du, Mädchen, aber die Kunst des Beschwörens wird von Flammenwebern praktiziert, nicht von Erdmagiern oder Wasserzauberern.«
»Sie ist vom Himmel gefallen«, erklärte Averan. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe gesehen, wie sie genau vor meiner Nase aus dem Himmel fiel. Ich befand mich oberhalb der Wolken. Vielleicht ist sie ein Wesen der Lüfte.«
Baron Poll drehte sich halb herum und sah sie an.
»Beschwören«, murmelte er nachdenklich, seiner Sache gewiß.
Averan runzelte die Stirn. Sie besaß eine Gabe der
Geisteskraft und lernte daher schnell. Aber sie war erst neun, und die magischen Künste hatten sie nie studiert. »Dann haltet Ihr mich also für den Beschwörer? Das ist verrückt!«
Baron Poll war der älteste, und selbst Roland wandte sich um Rat an ihn. Er sagte: »Vielleicht. Ich habe jedoch gehört, die Mächte hätten ihre Gründe für das, was sie tun. Vielleicht hast du sie nicht so sehr beschworen, sondern sie wurde vielmehr geschickt.«
Das erschien ihr ebenso unwahrscheinlich. Rolands Blutung war endlich gestillt, und die Wunde sah halbwegs sauber aus.
Averan bemerkte, daß ein wenig vorn Blut der grünen Frau auf ihre Finger gelangt war. Sie tauchte sie in den Eimer und versuchte, es abzuschrubben, doch das grüne Zeug war bereits in ihre Haut eingezogen und färbte ihre Hände mit unregelmäßigen Flecken, als
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