Schattenherz
Blütenblätter, und der Lichtschein spiegelte sich auf ihren Gesichtern.
Menschen aller Art standen auf diesem Feld: Lords und Damen in ihren elegantesten Kleidern, eintönig gekleidete Bauern zu Hunderttausenden, Gelehrte und Narren, Spielleute und Landarbeiter, Huren und Heiler, Kaufleute und Jäger. Die Kranken, die Gesunden, die Lahmen und die Sterbenden. Die Überraschten, die Freudigen, die Skeptiker, die wahren Gläubigen und die Verängstigten.
Es war der letzte Tag des Hostenfests, die Feier des Erdkönigs. Doch selbst in der Fröhlichkeit der Menschen schwang ein gewisser Schrecken mit.
Gemeinsam stimmten sie einen uralten Lobgesang an.
»Herrscher des Waldes, o Herr des Felds,
Vor dem ein jeder auf die Knie fällt.
Mit Freuden harren wir deiner Zeit.
Beginnt die Ernte, ruf uns herbei.
Senkt sich das Dunkel, stehen wir gereiht
Auf den Mauern der Burg und sind bereit.
Ich leih’ dir mein Schwert, du bist mein Schild Herrscher des Waldes, o Herr des Felds.«
Während die Menschen sangen, blickte Iome erstaunt nach unten, denn neben den buntschillernden Lichtern von den Prunkpavillons und den Lampen rings um die Burg erglühte im Burggraben ein seltsam saphirblaues Licht.
Die mächtigen Störe schwammen unbändig umher und
zeichneten Schutzrunen um die Burg, als böten auch sie dem Erdkönig ihre Unterstützung an.
Als der Gesang endete, wurden auf den Mauern von Burg Sylvarresta und inmitten der riesigen Menschenmenge Hörner geblasen. Hunderttausende von Stimmen vereinten sich zu dem Ruf: »Gelobt sei der Erdkönig! Gelobt sei der König der Erde!«
Ihre Stimmen hallten von den Bergen und den Burgmauern wider. Männer, Frauen und Kinder reckten die Fäuste in die Höhe und schrien ihr Erstaunen heraus. So manches Tier scheute angesichts des Gebrülls und hetzte aufgeregt durch das Lager. Eine Menge von wenigstens fünfhunderttausend Menschen stürmte vor und fiel, ihre Waffen Gaborn zur Unterstützung anbietend, auf die Knie. Männer brüllten und Frauen weinten, die Hörner schmetterten ohne Unterlaß. Auf den Burgmauern schwenkten junge Burschen ausgelassen die Farben Sylvarrestas.
Iome hatte sich einen solchen Lärm, einen solchen
Menschenauflauf niemals vorstellen können. Ihr lief es eiskalt über den Rücken.
Das ist erst der Anfang, wurde ihr klar. Die Menschen erinnern sich an die Legenden. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – wer leben will, weiß, daß er dem Erdkönig dienen und sich seinen Schutz verdienen muß.
Millionen und Abermillionen von Menschen sind auf dem Weg hierher. Die ganze Welt wird sich hier versammeln.
Und so stand Gaborn Val Orden triumphierend auf den Mauern von Burg Sylvarresta.
Iome schaute ihm ins Gesicht, um seine Reaktion zu sehen.
Er stand da wie erstarrt, den Blick nach Süden gerichtet, als lausche er auf eine ferne Trompete.
Iomes Blick wanderte zum Waldrand hinüber, aber sie konnte hinter den dunklen Bäumen nichts erkennen.
Doch Gaborn zitterte, während er mit entrücktem Blick hinter die Berge im Süden schaute.
»Was ist?« fragte sie.
Mit einem schweren Seufzer antwortete er: »Iome, ich spüre eine Warnung wie noch nie zuvor! Die Warnung der Erde. Die Felder hier sind schwarz. Mein Tod naht! Unser aller Tod naht!«
»Was soll das heißen?« fragte Iome.
»Wir müssen uns auf die Flucht vorbereiten«, erwiderte er.
Eine weitere Erklärung gab er nicht. Statt dessen machte er kehrt, ergriff ihre Hand und rannte vom Dach des
Königsturms herunter, durch die offenstehende Bodentür, die Treppen hinab, sechs Stockwerke tief, bis er die alten Kellergewölbe erreichte, wo seit langem kein Mensch mehr gelebt hatte.
Gaborns und Iomes Days mußten rennen, um mit ihnen
Schritt zu halten.
Iome war sich unbestimmt bewußt, daß der Erdwächter Binnesman dieses dreckige Loch zu seinem Arbeitszimmer erwählt hatte, nachdem Raj Ahtens Flammenweber sein Haus im Garten niedergebrannt hatten, trotzdem war sie auf den Anblick alles andere als vorbereitet, als Gaborn die Tür aufstieß.
Zauberer Binnesman stand inmitten des Kellers, dessen Geruch nach Schimmel, Schwefel und Asche nur durch die an den Deckenbalken aufgehängten Kräuterbündel zu ertragen war. Binnesman hatte weder Kerzen noch Lampen irgendwelcher Art in diesem Raum angezündet. Halb
vergraben im Schmutz auf dem Fußboden jedoch lag ein Seherstein. Es handelte sich um einen gewaltigen, runden Stein, einen geschliffenen Achat von reinstem Weiß. Weitere kleinere
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