Schatteninsel
ist?«, fragte Kataja dann.
»Ja, tut mir leid. Es war … allerhand los.«
»Aaron, nimm es mir nicht übel, aber zuerst sagst du ab, und dann rufst du mitten in der Nacht an und erklärst, dass es doch bei dem Termin bleibt. Ist alles in Ordnung?«
»Aber ja, nur ein bisschen Hektik.«
Das seltsame rasselnde Geräusch war schon eine ganze Weile zu hören gewesen, bevor Aaron es bewusst wahrnahm. Es kam nicht aus dem Handy. Aaron versuchte sich auf Katajas Stimme zu konzentrieren.
»Na gut, wenn du es nun doch einrichten kannst, treffen wir uns morgen«, sagte die Stimme, die gar nicht mehrverschlafen klang. Kataja war ein Mann der Praxis. »Ich bitte Nyholm um das neue Budget und …«
Doch das Rasseln fesselte Aarons Aufmerksamkeit. Einen Moment lang war er sicher, dass es am Motor lag, obwohl der eigentlich kein derartiges Geräusch machen sollte. Regelmäßig gewartet und gepflegt. Am oberen Rand seines Blickfelds, unmittelbar hinter der Windschutzscheibe, war etwas. Was konnte das sein? Aarons Verstand suchte nach logischen Erklärungen. Es gab keine. Der Schultermuskel zuckte wieder.
»Hör mal, ich muss Schluss machen«, sagte Aaron. Seine Stimme war dünn und gepresst.
Kataja schwieg sekundenlang.
»Wie bitte?«, fragte er dann.
»Ich muss Schluss machen«, wiederholte Aaron.
Natürlich war ihm klar, dass Kataja nach diesem Gespräch noch lange eine nachdenkliche Miene machen würde. Er würde abwägen, ob Aaron dem Stress wirklich gewachsen war, ob er zum Spitzenkandidaten taugte.
»Aber wir sehen uns dann morgen.«
»Ääh … okay.«
Aaron unterbrach die Verbindung und starrte vor sich hin. Seine Schulter zuckte so stark, dass der Stoff der Jacke raschelte. Ein unregelmäßiges Geräusch, wie eine Kontaktstörung an einem Elektrogerät.
In der Dunkelheit jenseits der Windschutzscheibe bewegte sich etwas Großes, etwas ungeheuer Großes. Es wogte in der Luft. Langsam, hypnotisch. Auf und ab. Die Oberfläche der kugelförmigen Netzaugen glänzte im Mondlicht. Die Bewegung der Flügel war ein schnelles Flimmern, wie schwimmendes Quecksilber, wie im Dunkeln strömendes Wasser.
Aaron drückte sich an die Rücklehne, schaute in die ausdruckslosen dummen Augen und begann klagend zu rufen. Es war ein gleichmäßiger hoher Ton, der noch anhielt, als alle Luft aus seiner Lunge entwichen war.
J akob stieg aus dem Grab. Er zog seinen schmerzenden mageren Körper über den Rand, klammerte sich an Steinblöcke und Grasbüschel, zwang sich auf die Beine. Seine Glieder gehorchten ihm nicht wie früher. Die linke Hand war gefühllos, doch Jakob sah ihr Zucken am Rand seines Blickfeldes. Die Füße trugen ihn mit kurzen Trippelschritten voran. Der Apotheker Langelin lehnte immer noch in halb sitzender Stellung am Felsen, das Kinn auf der Brust. Um ihn herum flogen Vögel auf, als Jakob sich zu ihm umdrehte. Er sah das Gesicht des Apothekers nicht. Nur die im Wind wehenden Haare. Die Vögel ließen sich in der Nähe nieder. Sie drehten den Kopf, breiteten die Flügel aus, kreischten. Jakob blickte auf.
Der Himmel war wie in Flammen.
Der Himmel stand endlich in Flammen.
Die Wolken wälzten sich blutrot über ihn.
Jakob fiel auf die Knie und betrachtete die Erscheinung durch einen Tränennebel. Niemand hat dergleichen je gesehen, dies haben Menschenaugen nie gesehen, niemals, es geschieht nur einmal .
Das Schauspiel war zu Ende. Der Prospekt flatterte und zerriss im Wind. Die Schauspieler vergaßen ihre Dialoge und blickten sich verstohlen um. Das Lächeln der Possenreißer erlosch, als der unnatürliche Schein alles umgabund der Himmel sich öffnen wollte. Das Schauspiel des Leids, das über Generationen hinweg angedauert hatte.
Die Wolken bildeten ungeheuerliche, den ganzen Himmel bedeckende Wirbel, in deren Mitte helle Lichter leuchteten. Die Bäume und das Gras und die Wellen und die Haare des Apothekers schwangen hin und her, als der Wagen der sündigen Welt aus der Bahn geworfen wurde.
Jakobs Körper war schwach, doch sein Herz brachte die Kraft auf, noch einmal zu schlagen. Ein schwerer Druck legte sich auf die Ohren und die Schläfen. Der Atem stockte. Jakob Mört umklammerte den Stoffbeutel und betrachtete das Ende der Geschichte, die letzte Sekunde der Welt wie ein Kind, das gerade zum ersten Mal die Augen aufgeschlagen hat.
M arkus und Jenni hatten Bacardi getrunken, aus der Flasche in der Strandtasche, auf die sie aufpassen sollten, während Jennis und Inas Mutter mit den anderen
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