Schatteninsel
stockte. Es war eine seltsam unbeteiligte Beobachtung, beinahe so, als ob sie miterlebte, wie eine große Maschine zum Stillstand kam.
»Miro! Mit wem hast du gesprochen?«
»Oho!« Miro lachte auf.
»Wer hat das gesagt, Miro?«
Der Junge kam näher.
»Oho, oho.«
Sein Atem roch schlecht, als hätte er sich übergeben. Jenni zwang sich, stehen zu bleiben, wehrte sich gegen das Gefühl, vor ihrem eigenen Kind davonlaufen, sich vor seinem Lachen fürchten zu müssen.
Miro schlüpfte an ihr vorbei. Der schnelle Rhythmus seiner Schritte klang wie immer, aber irgendetwas war falsch, so grundfalsch, dass Jenni ihre ganze Willenskraft einsetzen musste, um nicht zu schreien. Sie zwang sich, Miro zu folgen. Auf der Treppe rutschte sie aus und fiel auf den Rücken. Sie heulte auf, kämpfte sich aber hoch. IhreBeine waren von den Knien abwärts merkwürdig gefühllos. Als sie weiterging, musste Jenni sie im Auge behalten, um nicht ins Leere zu treten. Am unteren Ende der Treppe suchte sie nach dem Lichtschalter.
Das Wohnzimmer war leer. Die Reglosigkeit schien Jenni wie ein Hohn, denn sie begriff nicht, was hinter dieser Erstarrung geschah.
Irgendwo wehte kalte Luft herein. Jenni ging zur Haustür, ließ den Wind mit ihren Haaren und dem Saum ihres Nachthemds spielen. Sie rief nach Miro, zuerst halb flüsternd, als wäre es wichtig, niemanden zu wecken. Dann lauter. Ohne hinzusehen, schlüpfte sie in die erstbesten Schuhe.
Miros Gestalt bewegte sich am Waldrand und verschwand in der Dunkelheit. In keiner anderen Situation wäre Jenni hinausgegangen. Sie wollte nicht im Nachthemd in diese Schwärze stapfen, nicht die widerwärtige Berührung der Baumrinde spüren. Aber Miro würde sie immer folgen, ganz gleich, wohin.
IV
DAS GEBETSGRAB
W elche Enttäuschung, die Bewegung der Luft in der Lunge zu spüren. Welche Enttäuschung, die gierige Berührung eines Menschen zu fühlen. Welch unendliche Enttäuschung, die Augen aufzuschlagen und ein Menschengesicht zu sehen.
Jakob spürte die Hände, die ihn ans Feuer trugen, das Trinkgefäß an seinen Lippen, das Essen zwischen seinen Zähnen, wenn sein Kinn gegen seinen Willen mahlte wie ein teuflisches Butterfass, das seit Anbeginn der Welt gekirnt hatte.
Sie waren Fischer, wie er bald erfuhr. Die Männer hatten ihre alten Fischgründe aufgegeben, hatten sich von der Not getrieben aufgemacht, um bei den fernen Inseln reichere Beute zu suchen, obwohl der Herbst bereits weit vorangeschritten war und der Winter vor der Tür stand. Einfache Männer, die niemals würden verstehen können, was Jakob gesehen hatte. Sie nährten ihn, hielten ihn warm. Jakob wollte sie hassen, doch die Sattheit und die Wärme des Feuers verführten ihn dazu, auf den biederen Gesichtern der Männer Güte zu sehen.
Sie begruben den Apotheker und häuften auf jedes Grab weitere Steine. Zum Schluss sprach einer der Männer einholpriges Gebet, dessen Worte in Jakobs Ohren fremd klangen. Die Männer erklärten ihm, dass Tote, die in ungeweihter Erde begraben wurden, zu Wiedergängern zu werden pflegten, wenn man sie nicht schwer genug zudeckte. Jakob akzeptierte die Maßnahme, obwohl er sie für überflüssig hielt. Bald würde auch das Meer seine Toten hergeben und alle würden gerichtet werden.
Das für Jakob bestimmte Grab ließen die Männer offen. Sein klaffendes Maul begrüßte ihn an jedem Morgen.
Im Traum sah Jakob bisweilen den flammenden Himmel, doch jedes Mal erwachte er von seinen eigenen Worten. Vor ihm war nur der aschgraue Teppich des Himmels. Dahinter der durchscheinende Kranz der Sonne.
Einmal schreckte Jakob aus dem Schlaf und erblickte einen Fischer, der unter einem Baum hockend sein Geschäft verrichtete. Das Gesicht des Mannes war qualvoll verzerrt und in seinen Augen standen Tränen. Das ist alles, was dir geboten wird, versuchte Jakob zu sagen, doch er war noch zu schwach. Ein anderes Mal sah er, wie einer der Männer unter demselben Baum sein Glied rieb. Der gleiche Gesichtsausdruck. Das war alles. Oh Himmel, oh Erde.
Als Jakob so weit zu Kräften gekommen war, dass er wieder sprechen konnte, versuchte er, von all dem zu erzählen, was er gesehen hatte. Davon, wie alles enden würde. Doch einer der Fischer sagte nur: Davon weiß ich nichts. Ich werfe meine Netze aus und bete darum, dass Fische hineingehen. Ich mache Salzfässer. Das ist mein Leben.
Dennoch hatten sie ihn gerettet, diese simplen sündigenWesen. Vielleicht gehörten auch die Fischer mit ihren schlaffen
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