Schatteninsel
Erwachsenen in der Bar saß. Ina hatte nur einen kleinen Schluck probiert und dabei so angewidert das Gesicht verzogen, dass Markus befürchtet hatte, sie würde sich gleich übergeben.
Als die Erwachsenen zurückkehrten, hörten Jenni und Markus sich kichernd ihre Geschichten an. Nur Markus’ Vater schien ihre ausgelassene Stimmung zu bemerken. Er saß auf seiner Strandliege, schnaufte schwer und blickte sich ab und zu ruckartig um, als wäre er aus dem Schlaf geschreckt.
Nach einer Weile reagierte Jenni nicht mehr auf Markus’ Blicke und Lachsalven.
»Schläfst du?«, fragte Markus.
»Mir ist schlecht«, antwortete Jenni. »Ich geh schwimmen.«
Sie stand auf und machte einen schwankenden Schritt, holte ihren Badeanzug aus der Tasche. Markus lag in seinem Liegestuhl und war zu keiner Bewegung fähig. Er wäre gern mit Jenni gegangen, aber der Himmel war so blau, dass er einfach keine Kraft hatte.
Markus war kurz davor einzuschlafen, als ein Schattendie Sonne verdeckte. Er schlug die Augen auf und sah die schaukelnde Gestalt seines Vaters. Als sie nach links schwankte, wurde die untergehende Sonne wieder sichtbar. Markus wäre gern liegen geblieben und hätte den wundervollen raschen Sonnenuntergang betrachtet. Doch sein Vater ging weg. Die knirschenden Schritte der Strandschuhe. In Richtung der Umkleidekabinen.
Markus stützte sich auf die Ellbogen und beobachtete die kleiner werdende Figur seines Vaters. Die Reihe der Umkleidekabinen am Rand des Badestrandes. Er betrachtete die anderen Erwachsenen. Seine Mutter sagte mit schwerer Zunge etwas zu Jennis und Inas Eltern. Ganz toll, wisst ihr, einfach phantastisch .
Markus stand auf und folgte seinem Vater.
Irgendwie hatte er zwar gemerkt, dass sein Vater Jenni anders ansah, seit sie beide in die Mittelstufe versetzt worden waren, aber er hatte nicht begriffen, wieso die Versetzung irgendetwas verändern sollte. Er stapfte durch den heißen Sand und sah, dass sein Vater sich verstohlen umblickte, dann an die Tür einer Umkleidekabine klopfte. Zur nächsten ging. Und zur nächsten.
Markus erkannte Jennis Arm sofort.
Sie hielt die Tür auf. Dann trat der Vater ein. Die Tür fiel zu, und Markus war allein. Er hatte sich noch nie so einsam gefühlt. Der Sand brannte unter seinen Füßen. Erst jetzt merkte Markus, dass er seine Strandschuhe nicht angezogen hatte. Der schwarze Sand verbrannte ihm die Fußsohlen, doch seine Schritte wurden nicht langsamer. Die Tür näherte sich. Der Atem rauschte in seinen Ohren.
Markus legte das Ohr an die Tür.
Willst du sie zurück?
Die lallende Stimme seines Vaters.
Was denn?
Markus schob sich an den Türspalt. Blickte hinein.
Dreh dich um.
Markus sah das Rosa von Jennis Kleid zuerst nur vorbeihuschen. Es kehrte zurück, als er die richtige Stelle zwischen Wand und Tür fand.
Mach die Augen zu.
Markus spähte.
Wie schön Jenni war, mit geschlossenen Augen, in ihrem rosa Kleid. Eine Meerjungfrau. Sein Vater drehte die Puppe in den Händen, trat einen Schritt zurück. Streckte dann den Arm über Jennis Schulter vor ihr Gesicht.
Bitte. Aber einen Teil behalte ich.
Jenni kam aus der Umkleidekabine, ein Lächeln im Gesicht, vor sich hin starrend. Sie sah Markus nicht, denn er hatte sich ein Stück entfernt. Jenni ging mit staksigen, trägen Schritten und betrachtete immer wieder den Gegenstand in ihrer Hand wie die Erinnerung an einen Traum, von dem man nicht wusste, ob es ein Albtraum war oder etwas anderes.
»Wie hast du die zurückgekriegt?«
Markus sprach Jenni erst an, als sie ganz nah war.
Sie erschrak. Das war daran zu erkennen, dass ihre Augen plötzlich klar blickten. Ihr betrunkenes Lächeln wurde unsicher.
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte sie. »Sie gehört doch mir.«
Darauf hatte Markus keine Antwort. Er ließ Jenni einfach vorbeigehen.
Er starrte so lange auf die Tür der Umkleidekabine, bis sein Vater in der Badehose herauskam, Hemd und Shortsüber den Arm gelegt, sich sorglos umblickte und mit trägen Schritten am Ufer entlangging. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie wichtig die Dinge waren, die seine Hände zerbrachen.
Damals hatte Markus begriffen, dass sein Vater eine leere Schale war, die nur von dem Wunsch angetrieben wurde, alles für sich zu bekommen. In Vaters Innerem war niemand. Vielleicht war das bei allen Menschen so. Vielleicht war auch im Innern der Katzen niemand. Niemand, nirgends. Außer Markus und Jenni.
Er blickte seinem Vater nach. Rührte sich nicht,
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