Schattenjahre (German Edition)
verheilten Wunden, die er ihrem Herzen zugefügt hatte, erneut aufgerissen, und das wollte sie um jeden Preis verhindern.
16. KAPITEL
Daniel hatte Sage ein paar Tage nach der letzten katastrophalen Begegnung wiedergesehen. Ein Anruf aus dem Krankenhaus erschreckte ihn. Er griff nach seinem Jackett und dem Autoschlüssel, dann rannte er aus dem Haus.
Sage tat ihm leid, und er fragte sich, was für ein Mensch McLaren sein musste, wenn er ihr nicht einmal in diesen letzten Stunden erlaubte, mit seinem Sohn beisammen zu sein.
Soviel Daniel wusste, hatte außer ihm niemand erkannt, dass Sages hitziges Temperament den Unfall verursacht hatte. Und er verstand auch, warum Lewis McLaren, der Scott nach Hause bringen würde, dessen Liebesgeschichte mit der Engländerin ein Ende bereiten wollte. Aber sie vom Krankenbett zu verbannen, wo die beiden doch wenig später durch viele Tausend Meilen getrennt sein würden – das war eine unnötige Grausamkeit.
Am Telefon hatte eine Krankenschwester erklärt, Sage würde die Klinik praktisch belagern, das Personal ständig anflehen, man möge sie zu Scott lassen. Und das, obwohl sie wusste, dass er immer noch im Koma lag und sie gar nicht wahrnehmen würde. Offenbar war sie mehrmals gewaltsam aus dem Gebäude geführt worden, doch das hatte nichts genützt. Nun machte man sich allmählich Sorgen um ihren Gesundheitszustand. Deshalb bat man Daniel, einen der besten Freunde des Patienten, dem Mädchen Vernunft beizubringen. Mr McLaren hatte die strikte Anweisung gegeben, Sage dürfe seinen Sohn nicht besuchen. Und da Scott nicht für sich selber sprechen konnte, musste man die Wünsche des Vaters respektieren.
In der High Street hatte es einen Unfall gegeben. Ein Laster war umgekippt, die Ladung herausgefallen. Glücklicherweise hatte niemand Verletzungen erlitten, aber der Verkehr wurde beträchtlich behindert. Während Daniel wartete, bis sich der Stau auflöste, überlegte er, dass das ständig wachsende Problem verstopfter Straßen in britischen Kleinstädten zur Planung neuer Verkehrsnetze führen würde. Gute Neuigkeiten für Baufirmen wie das Unternehmen seines Vaters – und letztlich auch für ihn selbst.
Endlich war die Straße frei. Viel später als erwartet, erreichte er die Klinik. Er nahm an, Sage wäre bereits weggegangen. Aber die Stationsschwester, ein hübsches, etwa fünfundzwanzigjähriges Mädchen, das sehr tüchtig wirkte – teilte ihm mit, Miss Danvers sitze im Wartezimmer.
„Und Scott?“, fragte Daniel.
Sie schüttelte den Kopf. „Er liegt immer noch im Koma. Immerhin weisen einige Anzeichen darauf hin, dass er demnächst zu sich kommen wird. Sein Vater hat es sehr eilig, mit ihm nach Australien zu fliegen. Die Abreise ist für morgen geplant. Er hat eine Maschine mit allen erforderlichen medizinischen Einrichtungen gechartert.“ Vielsagend hob sie die Brauen. „Wie angenehm, wenn man sich so was leisten kann …“
Impulsiv erkundigte sich Daniel: „Es ist wohl ausgeschlossen, dass Sage den Patienten ein letztes Mal sieht – nur für ein paar Minuten?“
„Nun ja, Mr McLaren hat nachgegeben. Er sagte, sie dürfe für fünf Minuten zu seinem Sohn. Aber eine Schwester müsse dabei sein. Und es wäre wünschenswert, wenn Sie das Mädchen begleiten könnten.“
Daniel dankte ihr und ging durch die Schwingtür. Er fand Sage allein in einem deprimierenden, fensterlosen, stickigen Raum, nur mit Stühlen und einem Tisch eingerichtet, auf dem sich alte Zeitschriften stapelten. Als er eintrat, starrte sie blicklos auf die Wand, und sein Atem stockte. Noch bei keinem Menschen hatte er eine so dramatische Veränderung gesehen. Ihr Körper erschien ihm fast leblos. Sie war schon vorher sehr schlank gewesen, aber jetzt wirkte sie hager. Bei seinem Anblick hob sie abwehrend einen Arm, und ihr dünnes Handgelenk erschütterte ihn. Mühelos hätte er es mit Daumen und Zeigefinger umfassen können.
Sie war ganz in Schwarz gekleidet – ob absichtlich oder zufällig, konnte er nicht wissen. Jedenfalls unterstrich diese düstere Farbe Sages Verzweiflung auf so unnötige Weise, dass es fast grotesk anmutete. Ihr Leid war umso eklatanter, weil es überhaupt nicht verborgen wurde. Sicher würden ihr andere Leute den Rücken kehren, unangenehm berührt von der Intensität dieser Trauer, dachte Daniel. Heutzutage gilt es als rücksichtslos, fast unmoralisch, Gefühle so deutlich zu zeigen und die Mitmenschen in Verlegenheit zu bringen. Sage weinte nicht, aber ihre
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