Schattenjahre (German Edition)
Schulter.
Bevor er sprechen konnte, nahm sie dem Patienten die Kopfhörer ab – so schnell, dass weder Daniel noch die Pflegerin es verhindern konnten. „Scott …“, wisperte sie flehend. „Bitte, du musst wieder gesund werden. Ich brauche dich so dringend. Du darfst mich nicht verlassen. Ohne dich kann ich nicht leben. Scott – Scott …“
Die Schwester runzelte die Stirn und trat näher, doch Daniel kam ihr zuvor. Energisch zog er Sage auf die Beine. „Das genügt jetzt. Wir müssen gehen.“
Während sich alle der Tür näherten, zuckten unbemerkt die Hände der stillen Gestalt im Bett, als würden sie im Dunkel des Schweigens nach irgendetwas suchen.
Im Korridor senkte Sage den Kopf, um zu verbergen, dass sie immer noch weinte. Taktvoll tat Daniel so, als sähe er es nicht.
Ein Mann stand im Schatten einer Ecke und starrte Sage an. Daniel erkannte Scotts Vater und presste die Lippen zusammen. Wollte sich der Australier vergewissern, dass die fünf Minuten nicht überschritten wurden?
Daniel verstand McLarens verzweifelte Wut, doch er würde nicht zulassen, dass sie an Sage ausgelassen wurde. Warum er sie beschützen wollte, wusste er nicht. Und sie würde ihm auch gar nicht dafür danken.
Sie sah elend aus, und er fürchtete, sie könnte jeden Moment zusammenbrechen. Immerhin waren ihre Tränen versiegt. Aber dann blickte er in ihre Augen und begegnete einem so unverhohlenen Schmerz, dass er rasch wieder wegschaute und sich schuldig fühlte, als hätte er sie ausgezogen und würde ihren nackten Körper betrachten.
Wie in der Nacht des Unfalls nahm er sie in sein kleines Haus mit, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er hielt sie zwar nicht für selbstmordgefährdet, ein solcher Typ schien sie nicht zu sein. Trotzdem mochte er sie nicht allein lassen. Und wenn er auf sie aufpasste, konnte er sie wenigstens daran hindern, in die Klinik zurückzukehren.
Er beschloss, sie wieder in Scotts Zimmer zu bringen. Als er vor seinem Haus geparkt hatte und ihr aus dem Wagen half, erschrak er über ihre Lethargie. Und obwohl er sich sagte, ihr Zustand gehe ihn nichts an, telefonierte er mit seinem Arzt und bat ihn um einen Besuch.
„Sie hat einen schweren Schock erlitten“, diagnostizierte der Doktor drei Stunden später. „Wie viele Tage sind seit dem Unfall vergangen?“
Daniel wiederholte, was er bereits gesagt hatte. „Hm … Ich gebe ihr eine Beruhigungsspritze. Wahrscheinlich wird sie danach vierundzwanzig Stunden schlafen – was ihr keineswegs schaden dürfte. Sie braucht viel Ruhe, und sie muss tüchtig essen. Die Ruhe lässt sich arrangieren – aber der Appetit …“
Die Injektion tat ihre Wirkung, und Sage schlief tief und fest, während der Privatjet startete, den Lewis McLaren gechartert hatte. Ihr Körper sehnte sich nach Schlummer, nach einer Gelegenheit, neue Kräfte zu sammeln, und so erwachte sie erst in der übernächsten Nacht.
Daniel, der alle paar Stunden nach ihr sah, kam gegen Mitternacht zu ihr, und da sprach sie keine der Fragen aus, die er erwartet hatte – zum Beispiel, warum sie in seinem Haus sei. Stattdessen erkundigte sie sich: „Was für einen Tag haben wir?“
Er wusste, was sie dachte. In gelassenem Ton erwiderte er: „Zu spät, Sage. Heute Abend um neun ist er abgeflogen.“ Diese Mitteilung war vielleicht grausam, aber früher oder später musste das Mädchen Scotts Heimkehr akzeptieren. „Ich wollte gerade zu Abend essen“, log er leichthin. „Möchtest du auch was?“ Sie schüttelte den Kopf, doch er fuhr fort, als hätte er es nicht bemerkt: „Es gibt nur Omeletts. Ich bringe dir gern welche herauf. Soll ich?“
Sage hatte das Gesicht abgewandt, und er ahnte, dass sie weinte. Er unterdrückte einen Seufzer und ging nach unten, um Omeletts zu braten, die vermutlich niemand essen würde. Die halbe Portion richtete er auf einem Teller an und stellte ihn auf ein Tablett, zusammen mit einem Glas Milch. Er öffnete die Tür des Wohnzimmers, von wo die Treppe hinaufführte, und hielt abrupt inne.
Sie stand im Schatten. Obwohl der Raum nur von der Leselampe beleuchtet wurde, sah er, dass Sage seinen Bademantel angezogen hatte, ohne den Gürtel zu verknoten. Darunter war sie nackt, ihr nasses Haar kräuselte sich, winzige Wassertropfen rannen am Hals und zwischen denBrüsten hinab, über den Bauch, verloren sich im noch lockigeren Haar zwischen den Beinen.
Erstickende Hitze drohte Daniel zu überwältigen, ein wildes Verlangen, das alle anderen Gefühle und
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