Schattenjahre (German Edition)
Herzen. Die Mutter war zu ihr geeilt, hatte sie am Arm gepackt und zur Tür hinausgescheucht. „Geh in dein Zimmer, ich kümmere mich um deinen Vater …“
Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber Sage unterbrach sie und schrie: „O ja, schick mich in mein Zimmer, sieh nur zu, dass du mich loswirst! Du magst mich doch auch nicht, oder? Keiner von euch mag mich. Ich bin eben nicht euer kostbarer David. Nun, ich mag euch auch nicht. Es wäre euch viel lieber, wenn ich tot wäre und nicht er … Aber das ist mir egal – völlig egal!“
Natürlich war es ihr nicht egal. Es brach ihr das Herz, doch das sollten ihre Eltern nicht wissen.
Später brachte Chivers ihr ein Teetablett hinauf, und sie sah ihm an, dass er geweint hatte. „Ihre Mutter sagt, Sie sollen vorerst hier oben bleiben, Miss Sage“, erklärte er unbehaglich. „Sie ließ den Arzt rufen. Major Danvers …“Sie hörte nicht mehr zu, wollte nichts von ihrem Vater wissen, so wenig wie er von ihr.
Allein in ihren vier Wänden, vergoss sie bittere Tränen, trauerte um den Bruder, um sich selbst, und sie gelobte sich, dass es eines Tages jemanden geben würde, der sie liebte – wahrhaft liebte.
Das Begräbnis war ein Albtraum. Faye brach zusammen, in hilflosem Leid. Der Vater sah elend aus, und es überraschte Sage, dass der Arzt ihm erlaubt hatte, an der Beerdigung teilzunehmen. Nur die Mutter stand ruhig und mit trockenen Augen am Grab. Später, in Haus Cottingdean, ging sie gelassen zwischen den Trauergästen umher.
Als sich die Leute verabschiedet hatten, wurde Faye ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht, und man brachte sie ins Bett. Der Vater schloss sich in der Bibliothek ein. Und Sage fauchte ihre Mutter an: „David hat auch zu mir gehört. Er war mein Bruder – und der einzige Mensch in diesem Haus, der sich was aus mir gemacht hat.“
Sie redete sich ein, sie sei froh, weil sie nun bald auf die Universität gehen könne, und es würde sie nicht stören, wenn sie Cottingdean nie wiedersähe. Sechs Wochen nach Davids Tod wurde der Vater ernstlich krank und musste das Bett hüten. Er war schon immer schwach und anfällig gewesen, aber mit dem Verlust des Sohnes schien er auch den Lebenswillen verloren zu haben.
Wieder blieb die Mutter gefasst und erfüllte gewissenhaft ihre Pflichten. Es war Sage, die weinend vor der Schlafzimmertür des Vaters stand. Stumm fragte sie ihn, warum er ihr nie gestattet hatte, ihn zu lieben, ihm näherzukommen. Wieso hatte er sie immer abgewiesen? Auf diese Fragen würde sie wohl nie eine Antwort bekommen – und niemals wissen, warum sich die Menschen, mit denen sie am engsten verbunden sein müsste, von ihr abwandten.
Ein Jahr nach Davids Tod geschah, was alle erwarteten – eines Abends schlief Edward friedlich ein und wachte nicht mehr auf.
Faye und Camille waren inzwischen ins Haus Cottingdean übersiedelt, und Sage fühlte sich dort unerwünschter und unwillkommener denn je. Glücklicherweise wohnte sie jetzt hauptsächlich in der Universitätsstadt Alcester. Nichts zog sie nach Cottingdean. Die Mutter war eine Fremde, der sie nichts bedeutete.
Zumindest hatte sie sich das damals eingeredet.
Sie stand auf und wanderte rastlos im Zimmer umher.
Trotz allem hatte sie Scott an jenem Wochenende nach Cottingdean eingeladen – weil er neugierig gewesen war.
Wie sie sich entsann, hatte sie absichtlich einen Zeitpunkt gewählt, wo sie die Mutter nicht zu Hause antreffen würde. Aber Liz kehrte früher als geplant von ihrer Geschäftsreise zurück. Natürlich zeigte sie weder Ärger noch Erstaunen, weil die Tochter in Abwesenheit der Hausherrin einen Besucher mitgebracht hatte. Freundlich begrüßte sie Scott und half ihm aus seiner ersten Verlegenheit. Und dann sorgte sie dafür, dass er in einem Gästeraum einquartiert wurde, der weit von Sages Schlafzimmer entfernt lag.
Sofort geriet Scott in Liz’ Bann. Eifersüchtig beobachtete Sage, wie gut sich die beiden verstanden, wie eifrig Scott auf das Interesse ihrer Mutter reagierte. Um das Geheimnis ihrer Liebe zu hüten, hatte sie Liz nur wenig über ihn erzählt, überließ es ihm, zu erklären, der Vater habe ihn nach England geschickt, damit er ein bisschen „Schliff“ bekomme.
„McLaren“, wiederholte die Mutter nachdenklich, als Scott seinen Familiennamen genannt hatte, und er schaute sie verwundert an.
„Ja … Meine Vorfahren stammten aus Schottland.“
„Ja, so muss es wohl sein.“
Danach belegte sie ihn geradezu mit Beschlag. Sage
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