Schattenjahre (German Edition)
angezogen, aber an diesem Morgen wünschte sie, die Bluse wäre grau wie ihre Augen, mit lavendelblauem Schimmer, und der Rock aus feiner, weicher Wolle, nicht aus diesem dicken, kratzigen Stoff, der bleischwer ihre schmalen Hüften umschloss.
Sie besaß keine Nylonstrümpfe. Entweder mussten ihre Beine nackt bleiben und den juckenden Tweedrock ertragen, oder sie schlüpfte in die Wollstrümpfe, die Tante Vi für sie gestrickt hatte, ein Weihnachtsgeschenk.
Lizzie wusste nicht, warum sie sich für bloße Beine entschied, welche eitle Anwandlung sie an diesem Morgen bewog, unvernünftig zu sein und die verhassten Wollstrümpfe im Schrank zu lassen, in denen ihre schlanken Fußknöchel so schrecklich dick wirkten.
Sie schwang sich auf ihr altes Fahrrad. Wenn die Mädchen Dienst hatten, aßen sie im Krankenhaus. Sie bekamen nicht das gleiche Essen wie die Patienten, sondern „Schweinefraß“, wie sie es erbost nannten. Mit Tante Vis Mahlzeiten konnte sich diese Kost gewiss nicht messen. Die knauserige Frau drehte zwar jeden Penny zweimal um, ehe sie ihn ausgab, war aber eine gute Köchin. Lizzie vermisste die appetitlichen Speisen, das frische Gemüse und Obst, die Lebensmittel, die ihre Tante stets irgendwelchen Farmersfrauen abschwatzte und für die sie nur wenig bezahlte.
Da Lizzie an diesem Morgen freihatte, konnte sie nicht im Krankenhaus frühstücken. Im Wohnheim durften die Mädchen kein Essen zubereiten. Also gab es zwei Möglichkeiten – sie musste unterwegs etwas kaufen oder ein teures, wenig schmackhaftes Frühstück im einzigen Café des Dorfes bestellen.
Während sie sich zwang, nicht an den Haferbrei ihrer Tante mit Farmer Hobsons dicker Sahne zu denken, beschloss sie störrisch, auf ein Frühstück zu verzichten. Alle Mädchen waren immer hungrig. Da sie hart arbeiten mussten, aßen sie stets alles auf, was sie bekamen, mochte es auch noch so grässlich schmecken. Die meisten waren dünn, und wegen ihres zarten Knochenbaus wirkte Lizzie besonders schlank. Ihre zierlichen Handgelenke und Fußknöchel sahen so aus, als könnten sie jeden Augenblick zerbrechen.
Während sie die Straßen entlangradelte, spürte sie den warmen Sonnenschein auf dem Kopf und roch den Duft des Spätfrühlings, der bereits den Sommer verhieß. Blonde Haarsträhnen lösten sich aus der Zopfkrone und kräuselten sich rings um das Gesicht. Anfangs hatten die anderen Mädchen nicht geglaubt, dass ihr Haar naturblond war, und behauptet, sie würde es färben.
Lizzie beschloss, nicht durch das Dorf zu fahren, sondern außen herum. Sie folgte einer schmalen Seitenstraße, die zum Hintereingang des Krankenhauses führte.
Vor dem Krieg war die Klinik ein Herrschaftshaus gewesen, die Seitenstraße hauptsächlich vonDienstboten und Lieferanten benutzt worden. Fröhlich radelte Lizzie mitten auf der Fahrbahn dahin, als sie das Auto hörte. Das Geräusch kam so unerwartet, dass sie zunächst keine Anstalten traf, das Rad an den Straßenrand zu lenken. Während der Kriegszeiten herrschte im Dorf nur schwacher Verkehr. Die Frau des Gutsherrn benutzte ihren Wagen, um das Rote Kreuz zu unterstützen, und manche Soldaten hupten gebieterisch, um Platz für ihre Vehikel zu schaffen. Aber auf dieser stillen Straße hatte Lizzie noch kein Auto gesehen. In einen Tagtraum vertieft, reagierte sie auf das Motorengeräusch erst, als es beinahe zu spät war.
Die Erkenntnis, dass jemand hinter ihr fuhr – in einem teuren Sportcabrio, ein junger Mann mit windzerzaustem, dichtem schwarzen Haar in der schneidigen Uniform eines Luftwaffenpiloten –, traf sie wie ein Schock, als sie über die Schulter blickte. Die dunkelgrüne Motorhaube funkelte im Sonnenlicht. Erschrocken merkte sie, dass die Straße zu wenig Platz für das Cabrio und ihr Fahrrad bot. Verzweifelt riss sie es zur Seite und verlor das Gleichgewicht. Der junge Mann bremste in einer Kakofonie aus quietschenden Reifen und einem laut knirschenden Protest des Motors und äußerte lauthals seine Zweifel an Lizzies Verstand.
Sie lag auf der staubigen Straße, die Knie schmerzhaft aufgeschürft. Tränen brannten in ihren Augen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Die Wangen puterrot vor Verlegenheit, stand sie auf und hörte im selben Moment einen Wagenschlag knallen.
„Sind Sie okay?“, fragte der junge Mann. „Das war ein schlimmer Sturz. Ich dachte, Sie hätten mich gehört.“
„Ja, aber – es kam mir nicht zu Bewusstsein. Sonst fahren hier keine Autos.“ Eine innere
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