Schattenjahre (German Edition)
Nein, sie hätte sich anders verhalten müssen. War es denn nötig, dass jemand für sie dachte? Warum erkannte sie nicht von sich aus, wie sie sich am ehesten von der Vergangenheit befreien konnte – nämlich, indem sie ihr ins Auge blickte?
Die Tagebücher veranlassten sie zu solchen Überlegungen, das Wissen, das sie daraus bezog – die Erkenntnis, dass auch andere Menschen von Geistern und Ängsten heimgesucht wurden, dass sie nicht allein war mit dieser Bürde der Schuld und des Hasses.
„Ich habe ein weiteres Tagebuch ausgelesen und in dein Zimmer gelegt“, verkündete Sage, ohne auf Fayes Wutausbruch zu reagieren. „Übrigens, heute Abend erwarte ich Daniel Cavanagh. Ich möchte etwas mit ihm besprechen.“
„Daniel Cavanagh … Er leitet doch die Firma, die unseren Teil der neuen Straße bauen soll.“ Faye hob verwirrt die Brauen. „Findest du es klug, ihn hierher einzuladen? Ich meine …“ Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid. Ich fürchte, in dieser Sache bin ich dir keine große Hilfe. Dann gehe ich jetzt wohl besser und besänftige Camilla. Wo ist sie denn?“
„Sie sagte, sie würde eine Schulfreundin besuchen, und bat Jenny, sie mit dem Auto hinzubringen. Übrigens versicherte sie, du hättest nichts dagegen“, fügte Sage hinzu, als Faye die Stirn runzelte.
„Nein, natürlich nicht. Aber sie weiß, dass ich immer erfahren möchte, wo sie ist und mit wem sie sich trifft. Heutzutage muss man vorsichtig sein.“
„Sie ist achtzehn, und du kannst sie nicht ihr Leben lang unter eine Glasglocke stellen.“
Faye lächelte mit schmalen Lippen und ging zur Treppe. Noch nie hatte Sage sie so temperamentvoll gesehen. Wovon war dieser emotionale Ausbruch provoziert worden? Doch dann verdrängte sie die Gedanken an ihre Schwägerin und deren Probleme, als die Räder eines weiteren Autos auf dem Kies der Zufahrt knirschten.
Sie hatte Jenny gebeten, bei Daniels Ankunft die Haustür zu öffnen, in der Hoffnung, solche Formalitäten würden ihre Position stärken. Dies war einer der Gründe, warum sie ihn hierher eingeladen hatte, statt ihn auf neutralem Boden zu treffen. Und sie musste jeden Vorteil nutzen, der sich ihr bot.
Ein Wagenschlag fiel ins Schloss. In London genoss Daniel nicht nur den Ruf eines ausgezeichneten Geschäftsmannes, sondern galt erstaunlicherweise auch als Ehrenmann mit hohen moralischen Grundsätzen. Aber warum wunderte sie sich darüber? In jener Nacht, wo er sie abgewiesen und wie ekliges Ungeziefer behandelt hatte, waren seine formidable Willenskraft und seine Moralbegriffe deutlich zum Vorschein gekommen. Sie hätte schwören können, dass er sie schon seit der ersten Begegnung begehrte, war so sicher gewesen, er würde mit ihr schlafen und auch in ihr Leidenschaft entfesseln. Was hatte sie gewollt? Die hoffnungslose Liebe zu Scott im Feuer von Daniels Lust verbrennen?
Schritte auf dem Kies holten sie abrupt in die Gegenwart zurück. Sie rannte zur Bibliothek, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, vor dem goldgerahmten Spiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert innezuhalten, einer der vielen Kostbarkeiten, die ihre Mutter auf Auktionen erworben hatte.
Früher hatte der Spiegel im Salon eines irischen Hauses gehangen. Im Rahmen prangte das Wappen einer Adelsfamilie. Ein schönes Kunstwerk, mit liebevoll geschnitzten Details … Aber Sage beachtete den Rahmen nicht und konzentrierte sich auf ihr sorgfältig geschminktes Gesicht. Was würde Daniel bei ihrem Anblick sehen? Würde er die zartrosa bemalten Lippen mit dem zitternden Mund des Mädchens in Verbindung bringen, das in verzweifelter Sehnsucht nach tröstlichen Worten seinen Namen gerufen hatte?
Und wenn er in die verschleierten grünen Augen mit dem exquisiten Make-up schaute – würdeer darin keine Selbstkontrolle, keine Lebensweisheit lesen, sondern das Leid einer Neunzehnjährigen? Würde er keine kunstvolle Frisur sehen, sondern wilde Locken rings um ein tränennasses Gesicht, würde die Beleidigungen hören, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, um ihn genauso zu verletzen wie er sie?
Es war schlimm genug gewesen, mit der Gewissheit zu leben, dass Scott im Gegensatz zu ihr nicht die geringste Neigung verspürt hatte, die Liebe auch in sexueller Hinsicht zu besiegeln. Sie sagte sich, er habe recht, sein Entschluss, noch zu warten und erst die Familien über die Beziehung zu informieren, beweise nur, wie sehr er sie liebte und respektierte. Aber dann wurde sie auch von Daniel
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