Schattenjahre (German Edition)
als er das Zimmer betrat, wusste sie, dass das nicht stimmte.
Für eine Frau war sie relativ groß. Warum fühlte sie sich dann angesichts seiner hochgewachsenen, kräftig gebauten Gestalt nervös und atemlos? Sie fand Männer mit so breiten Schultern doch eher abstoßend als attraktiv.
Er kam auf sie zu, und sie suchte in seinem dichten dunklen Haar vergeblich nach grauen Fäden. Hat er es färben lassen? fragte sie sich, aber diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Daniel war kein solcher Typ.
Seine Frisur verriet einen erstklassigen Friseur, die Fingernägel waren sorgfältig manikürt, die Hände und Handgelenke aber immer noch sehnig und kraftvoll, die Sonnenbräune bezeugte, dass er so wie früher stundenlang mit seinen Leuten auf Baustellen arbeitete. Sie erinnerte sich, wie sehr Scott ihn bewundert, wie gern er die Tugenden seines Freundes aufgezählt hatte, um Sages spöttische Bemerkungen über Daniel zu entkräften.
Scott … Was tat er jetzt? Dachte er überhaupt noch an sie? Wie sie wusste, war er verheiratet. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, ihr anonym eine australische Zeitschrift mit dem Bericht über die „Hochzeit des Jahres“ zu schicken. Die junge Mrs McLaren war die Tochter eines erfolgreichen Unternehmers. Das große Fest hatte vor sechs Jahren stattgefunden. Auf den Fotos sah Scott keineswegs unglücklich aus. Sages verzweifelte Briefe an den geliebten Mann waren alle ungeöffnet zurückgeschickt worden, die Telefonanrufe unbeantwortet geblieben. Nur ein einziges Mal hatte Lewis McLaren ihr geschrieben, in knappen Worten erklärt, sein Sohn sei auf dem Weg der Besserung und wünsche keinen Kontakt mehr mit ihr.
An die Jahre zwischen Scotts Unfall und seiner Hochzeit wollte sie sich nicht erinnern. In diesen Jahren hatte sie reichlich vom schweren, schwindelerregenden Wein des Lebens getrunken und oft festgestellt, dass dies zu bitterem Seelenleid führte.
Mit dem Heilmittel Sex hatte sie versucht, die Vergangenheit zu verdrängen – bis sie eines Morgens mit der Erkenntnis erwacht war, sie würde lieber allein im Bett liegen als mit dem Mann an ihrer Seite. Wie jede andere Krücke funktioniert Sex nur dann, wenn man an die Wirkung glaubt. Letzten Endes ist es besser, die Realitäten des Lebens und den damit verbundenen Kummer ohne Krücken zu meistern. Sex an sich bringt zwar körperliches Vergnügen, aber es mangelt ihm an echten Gefühlen. Und für Sage war Sex nichts weiter als Selbstzerstörung gewesen, maskiert von der Illusion, sie würde sich ohnehin nur damit befassen, um körperliche Lust zu empfinden.
Um das zu begreifen, hatte sie viele einsame Stunden einer schmerzlichen Selbstanalyse geopfert, um zu verstehen, dass sie sich mit ihrem Lebenswandel bestrafte, ihrem eigenen Herzen wehtat, sich selbst vernichtete.
Das war vor sechs Jahren gewesen. Doch die Klatschkolumnisten wollten es nicht wahr haben und dichteten ihr immer noch ständig wechselnde Liebhaber an. In Wirklichkeit hatte es seit zwei Jahren keinen mehr gegeben – und auch davor viel weniger, als man anzunehmen schien.
Die Männer, mit denen sie zusammen gewesen war, hatten sie begehrt, manchmal bis zum Wahnsinn. Im Gegensatz zu diesem hier, dachte sie und blickte Daniel entgegen. Er hatte sich kaum verändert, wirkte nur reifer, härter, cleverer. Die abschätzenden grauen Augen waren dieselben wie damals, sahen immer noch viel mehr, als man ihnen zeigen wollte. Der Händedruck – so fest wie eh und je, der Mund nach wie vor verwirrend leidenschaftlich, auch wenn er so kühl lächelte wie in diesem Moment.
„Daniel … Wie nett von dir, dass du so kurzfristig bereit warst, mich zu besuchen.“ Sie erwiderte das Lächeln, distanziert und professionell. Diese Miene setzte sie auf, wenn gewisse Kunden glaubten, sie wäre nicht nur als Wandmalerin, sondern auch als Frau verfügbar.
„Wie ich mich entsinne, hast du mir keine andere Wahl gelassen.“ Seine Stimme hatte sich verändert, klang etwas reservierter. Ließ das Rückschlüsse auf sein jetziges Wesen zu? Nachdenklich betrachtete er Liz’ Schreibtisch. „Ein kostbares Stück.“
„Ich denke schon, aber leider verstehe ich nicht viel von Antiquitäten. Diesen Tisch entdeckte meine Mutter bei einem Nachlassverkauf in Irland. Sie war klug genug, in den fünfziger Jahren eine Menge altes Zeug zu kaufen. Damals wollte sich noch niemand mit Sachen blicken lassen, die älter als sechs Monate waren. Und die Einrichtungen vieler baufälliger
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