Schattenjahre (German Edition)
Wohlstand genoss, infolge der Spinnerei, die alle Weltmärkte belieferte. Zumindest trieb sie Handel mit jenen Ländern, wo man sich die teure Wolle von erstklassigen englischen Schafen leisten konnte – Qualitätsprodukte, die alte Traditionen und die Errungenschaften neuer Techniken auf vorbildliche Weise kombinierten.
Über die Frau, die diese profitable Industrie aufgebaut und ihr blühendes Leben eingehaucht hatte, hörte Daniel nur Lobeshymnen. Was ihre Tochter betraf – es verblüffte ihn, wie wenig die Einheimischen von Sage wussten, viel weniger als er selbst. In gewisser Weise war London ein Gebilde aus kleinen Dörfern, wo die Bewohner einander kannten, wenigstens jene, die ein so auffälliges Leben führten wie Sage.
Sicher, im Lauf der Jahre hatten sich die Gerüchte über ihr wildes Temperament, ihre Liebhaber und ihre Unberechenbarkeit verflüchtigt – so wie der Ruhm ihrer Wandmalereien gewachsen war.
Letzten Sommer hatte er eines dieser Gemälde in der Villa eines Bekannten gesehen, die in einem entlegenen Teil der Insel Ibiza stand. Daniel war beeindruckt gewesen von der Kreativität des Bilds, von der Tiefe und Intensität. Auch ohne die Schöpferin zu kennen, hätte er gewusst, dass sie eine starke emotionale Kraft besaß. Wie gern hätte er ihr einen Auftrag erteilt – doch das war unmöglich.
Wie man den Klatschspalten neuerdings entnahm, wurde Sage derzeit von einem australischen Griechen belagert, der ihr bis nach London gefolgt war. Wer immer er sein mochte, im Augenblick schien er keine Rolle in ihrem Leben zu spielen.
Oft fragte sich Daniel, ob ihrer beider Leben anders verlaufen wäre, hätte er in jener Nacht seinem Verlangen nachgegeben, den Liebesakt vollendet und vielleicht sogar ein Kind gezeugt. Ironisch verzog er die Lippen, während er nach seinen Papieren griff und die Wohnung verließ. Damals wäre ein Baby das Letzte gewesen, was er sich gewünscht hätte – egal, von welcher Frau. Warum stellte er sich plötzlich das Kind vor, das Sage ihm vielleicht geschenkt hätte?
Er stieg in den Wagen, startete den Motor und stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, dass er sich beeilen musste, wenn er pünktlich in Cottingdean eintreffen wollte. Hätte er in der ersten Phase dieses Bauprojekts gewusst, wozu es führen würde – zu einem Gespräch unter vier Augen mit Sage –, er hätte die ganze damit verbundene Arbeit schleunigst auf jemand anderen abgewälzt. Und das größte Problem – er begehrte sie immer noch …
Plötzlich fluchte er und trat abrupt auf die Bremse, halb und halb versucht, umzukehren, Sage anzurufen, die Besprechung abzusagen. Doch er würde es nicht tun, das wusste er. Etwas, das stärker war als Logik und Vernunft, trieb ihn an.
Verdammt, beim Gedanken an Sage fühlte er sich mit seinen siebenunddreißig Jahren immer noch wie ein unbedarfter Siebzehnjähriger. Er, der seine Bettgefährtinnen so penibel aussuchte und sich wegen der gesundheitlichen Gefahren niemals mit Frauen einließ, die auf eine äußerst wechselhafte erotische Vergangenheit zurückblickten – er, der gefühlsarme Frauen und den Mangel echter Intimität ablehnte, der Beziehungen verabscheute, wenn sie nur der sexuellen Befriedigung dienten … Das war vielleicht seine Schwäche – wenn er sich mit dem Körper einer Frau vereinte, wollte er auch seine Seele mit ihr teilen, seine Gedanken, die großen und kleinen Intimitäten seines Lebens. Aber er war noch keiner Frau begegnet, die den Wunsch nach einer festen, dauerhaften Beziehung geweckt hätte. Keine einzige seiner Geliebten hatte eraufgefordert, in seine Wohnung zu ziehen.
Keine einzige seiner Geliebten … Daniel schnitt eine Grimasse. In den letzten Jahren hatte es keine gegeben. Natürlich war er mit mehreren Frauen ausgegangen, hatte ihre Gesellschaft genossen und gewusst, er könnte mit ihr schlafen. Aber Sex als Selbstzweck missfiel ihm.
Auch derzeit war er mit keiner Frau liiert. Helen Ordman hatte diskret angedeutet, sie würde den beruflichen Kontakt gern auf die private Ebene ausdehnen. Er bewunderte zwar ihren Geschäftssinn, doch er begehrte sie nicht sonderlich. Stimmte es, dass man den Erfolg in der modernen, von Konkurrenzkämpfen und Stress geprägten leistungsorientierten Welt mit dem Verlust der Libido bezahlte? Er brauchte nur an Sage zu denken, um zu wissen, dass es nicht so war, und ärgerlicherweise dachte er viel zu oft an sie. Zu seiner Überraschung hatte er festgestellt, wie eifrig sie sich für
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