Schattenjahre (German Edition)
zurückgewiesen, obwohl sie in seinen Augen so oft eine Botschaft entdeckt hatte, die keiner Übersetzung bedurfte. Und als er ihr brutal erklärte, er wolle sie nicht haben, litt sie wie nie zuvor. In jenem Moment kamen ihr die ersten schmerzlichen Zweifel an sich selbst, an ihrer Sexualität, an ihrer gesamten weiblichen Psyche. Wenn sie nicht begehrt wurde – warum verspürte sie dann dieses heiße Verlangen, Teil eines anderen Menschen zu werden? Warum musste sie mit demütigenden Gefühlen kämpfen?
In jener Nacht hatte sie sich eine qualvolle Frage gestellt: Bin ich eine Frau ohne echte Sexualität, ohne die Fähigkeit, einen Mann zu erregen und von ihm erregt werden?
Der antike Türklopfer schlug gegen das Holz. Hastig wandte sich Sage vom Spiegel ab, eilte in die Bibliothek und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, um zu prüfen, ob die Szenerie ihren Wünschen entsprach. Jenny hatte Feuer im Kamin gemacht, das nun eine Aura von Wärme und Gemütlichkeit verbreitete und Daniel hoffentlich bewegen würde, in seiner Wachsamkeit nachzulassen, sich willkommen zu fühlen …
Auf einem Silbertablett funkelten eine Sherryflasche und antike Kristallgläser im Flammenschein. Der Sherry stammte aus dem kleinen Vorrat, den Sages Urgroßvater angelegt hatte und der Kits Aufmerksamkeit glücklicherweise entgangen war. Das Tablett war nicht wertvoll, aber ein Geschenk an die Mutter von den Kindern aus der Dorfschule, für deren weitere Existenz sie hart gekämpft, für die sie hohe Summen gespendet hatte. Jetzt zählte das neue Schulhaus zu den modernsten im County.
Mit dem Tablett hatten die Kinder ihrer Wohltäterin gedankt. Liz’ Name und das Datum der Übergabe waren eingraviert. Oft hatte sich Sage zynisch gefragt, warum Liz, die so viele schöne, kostbare Dinge besaß und liebte, gerade dieses Tablett so besonders schätzte. Jetzt glaubte sie es zu wissen. Die Erkenntnis war beschämend und schmerzlich – wie viele Erkenntnisse, die man durch mühevolle Erforschung der Wahrheit gewann.
Schritte näherten sich in der Halle – und Stimmen, Jennys hohe, fröhliche, Daniels gedämpfte, tiefe, sehr männliche.
Protestierend drehte sich Sages Magen um, als die Haushälterin an die Bibliothekstür klopfte und sie dann öffnete.
Zu ihrer Bestürzung merkte Sage, dass sie in ihren Schuhen die Zehen krümmte wie ein verschrecktes Kind. Das war nun wirklich nicht der Eindruck, den sie erwecken wollte. Rasch schaute sie an sich hinunter und entfernte eine winzige Fluse von ihrem korrekten Kostüm. Sie mochte dieses Outfit nicht und reservierte es für unsympathische Auftraggeber oder Besprechungen, die sie langweilten. Es verlieh ihr ein weltgewandtes Flair. Der kurze enge Rock betonte ihre Sinnlichkeit, das lange doppelreihige Jackett fügte einen verwirrenden Touch von maskuliner Härte hinzu. Wie sie zu ihrer zynischen Belustigung erfahren hatte, stammte der feine Wollstoff aus der Weberei, die der Danvers-Spinnerei angeschlossen war.
Unter dem Jackett schimmerte eine cremefarbene Seidenbluse, darunter schlichte und noch teurere seidene Unterwäsche. Dieses bisschen Luxus leistete sie sich. Wenn sie arbeitete, was meistens der Fall war, trug sie Jeans und große Männerhemden – wenn sie nicht arbeitete, praktisch das Gleiche. Nur bei unwillkommenen „offiziellen“ Anlässen und bei Besuchen im Haus der Mutter hielt sie sich an gewisse Normen.
Sage hatte Liz’ Wertschätzung dieser Etikette immer spießig gefunden, als Zeichen einer sturen Weigerung betrachtet, mit der Zeit zu gehen. Jetzt, nach ihrer Lektüre der Tagebücher, sah sie die Dinge etwas anders. Sie erkannte, wie unvorstellbar es für Liz sein musste, sich lässig zu kleiden – für eine Frau, die in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, einen kranken, wesentlich älteren Mann geheiratet und so große materielle Probleme bewältigt hatte. Wenn ich selbst eine Tochter hätte, fragte sich Sage, würde es mir auch so schwerfallen, sie zu verstehen – wäre ichunfähig, die Kluft zwischen uns zu überbrücken?
Seltsam – seit der Trennung von Scott hatte sie nie mehr überlegt, wie es wäre, Mutter zu werden. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt daran?
Sie hatte sich eingeredet, sie sei bereit für die Konfrontation mit Daniel, seine Gegenwart würde keine Trauer, keine Ängste heraufbeschwören, nach dem Schock des unerwarteten Wiedersehens bei der Versammlung der Protestgruppe sei sie endgültig von der Vergangenheit befreit. Aber
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