Schattenjahre (German Edition)
sie sich ihre Freundschaft wünschte, statt von ihr getrennt zu sein, durch die aufgezwungene Kluft der schwierigen Beziehung.
Sie hörte ein Auto, zuckte zusammen und lief in die Halle. Erleichtert atmete sie auf, verspürte aber auch eine unerwartete Enttäuschung, die den Schmetterlingen in ihrem Magen neuen Auftrieb gab. Es war Faye – nicht Daniel.
„Tut mir leid, dass ich so spät heimkomme“, entschuldigte sich Faye nervös. „Das wollte ich nicht – aber dieser dumme Mann …“ Sie verstummte, und Sage runzelte die Stirn, als sie bemerkte, wie verändert ihre Schwägerin wirkte. Die Wangen glühten, und sie strahlte eine völlig uncharakteristische Vitalität aus.
Sie bewegte sich auch anders. Mit schnellen, fast energischen Schritten durchquerte sie die Halle. Plötzlich wirbelte sie herum und fragte bitter: „Sehe ich so aus, als könnte ich mein Leben nicht kontrollieren – als müsste ich wie ein Kind behandelt werden? Ich bin über vierzig, verdammt …“
Nie zuvor hatte sie geflucht, und Sage blinzelte verwirrt. Sie ignorierte Fayes Gefühlsausbruch und bemerkte sanft: „Freut mich, dass du wieder da bist. Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“
„Da siehst du’s! Ihr habt euch Sorgen gemacht! Warum? Ich bin eine funktionsfähige erwachsene Frau, kein kleines Mädchen. Würdest du erwarten, ich wäre besorgt, wenn du mal später heimkommst?“
„Vielleicht – wenn ich für einen ganzen Tag verschwinde, ohne irgendjemandem mitzuteilen, wo ich notfalls zu erreichen bin“, erwiderte Sage trocken und fügte rasch hinzu, um eine weitere Explosion zu verhindern: „Ich will dich nicht ausfragen. Was du mit deinem Leben machst, ist deine Sache. Aber Camilla war sehr aufgeregt. Sie muss gerade schwere Zeiten durchstehen – ihre Prüfungen –, und ihre Gran liegt im Krankenhaus … Sicher hat sie das Gefühl, ihre ganze Welt wäre aus den Fugen geraten. Die Mädchen in diesem Alter erwarten, ein Tag würde wie der andere verlaufen, die Menschen, die sie lieben, müssten immer da sein, und wenn sie merken, dass es nicht so ist …“
„Ja, ich weiß“, stimmte Faye zu. „Ich vermisse Liz auch.“
„Vermutlich ist Camilla ein bisschen pikiert, weil du ihr nicht gesagt hast, wo du hinfahren würdest. Sie erklärte, du würdest mit Mutter jeden Monat an einem bestimmten Dienstag ein Fraueninstitut besuchen.“
„Und du glaubst ihr nicht?“, fragte Faye herausfordernd.
„Was ich glaube, spielt keine Rolle. Es geht um Camilla.“
„Und was versuchst du anzudeuten? Denkst du, deine Mutter und ich würden einmal pro Monat losziehen, um Männer aufzugabeln? Nun, nur zu deiner Information …“
„Ich will gar nicht wissen, was du tust“, fiel Sage ihrer Schwägerin irritiert ins Wort, „und es interessiert mich auch gar nicht.“ Die bevorstehende Begegnung mit Daniel zerrte an ihren Nerven. Sie war völlig durcheinander. Einfach lächerlich, sich ständig an etwas zu erinnern, das vor über fünfzehn Jahren geschehen war, das Daniel sicher längst vergessen hatte … Zumindest hoffte sie das.
„Klar, dir ist es überhaupt egal, was deine Mitmenschen tun.“ Plötzlich verhärteten sich Fayes sanfte Gesichtszüge. „Niemand interessiert dich. Nicht einmal du selbst. Nun, damit du’s weißt … Du magst mit jedem Mann, der dich einigermaßen reizt, ins Bett hüpfen. Aber ich bin nicht so. Wenn ich diesen besonderen Tag meiner Privatsphäre zuordne – dann handle ich vielleicht nur deshalb so, weil es nötig ist, um meiner selbst und um Camillas willen. Aber auf solche Ideen kämst du nie, weil du die Belange einer anderen Person niemals vor deine eigenen stellst …“ Sieunterbrach sich, plötzlich glänzten Tränen in ihren Augen.
O Gott, was sagte sie da? Aber sie war so wütend auf diesen aufdringlichen Doktor, der sich in ihre Privatangelegenheiten eingemischt und angedeutet hatte – was? Dass sie unfähig war, selbst nach Hause zu fahren, schwach und dumm? Hatte er nicht bloß unterstrichen, was sie über ihre eigene Person dachte? Vielleicht, aber sie war auch nur ein Mensch, und es störte sie, von einem anderen auf ihre Fehler hingewiesen zu werden. Das war so liebenswert an David gewesen – nie hatte er ihr das Gefühl gegeben, schwach oder albern zu sein, sie nie zur Konfrontation mit den bösen Geistern gezwungen, die sie verfolgten. Nie hatte er sie gedrängt, irgendetwas zu tun, das sie nicht wollte. Aber vielleicht hätte er sie anders behandeln sollen.
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