Schattenjahre (German Edition)
riskierst du weniger als mit strengen Verboten. Sonst würde sie sich gegen dich auflehnen und vielleicht tatsächlich zu dieser Party fahren, die auch mir nicht ganz astrein vorkommt, das muss ich gestehen.“
„Es ist okay, ein Kind mit Streichhölzern spielen zu lassen“, meinte Faye sarkastisch, „aber es sollte jemand dabei sein, der aufpasst.“
„So ungefähr. Wenn Sie Glück hat, wird sie sich nur die Finger verbrennen und sonst nichts. Und der kleine Schmerz müsste sie davon abbringen, ein größeres Risiko einzugehen.“
„Ich höre mir das nicht mehr an …“, begann Faye mit verkniffenen Lippen, wobei sie ihrer Tochter überraschend ähnlich sah, unterbrach sich aber, weil das Telefon läutete.
Sage, dem Apparat am nächsten, meldete sich. Ihr Atem stockte, als eine Frauenstimmeerklärte, Dr. Ferguson wolle sie sprechen. Sie musste ein paar Sekunden warten, bis sie verbunden wurde. Das hätte sie normalerweise geärgert, aber nun nutzte sie diese Zeit, um zu beten. Lieber Gott, bitte, lass nicht zu, dass es ihr schlechter geht … Bitte – bitte …
„Miss Danvers, ich möchte mit Ihnen über Ihre Mutter reden.“ Wie um alles in der Welt schaffte er es nur, seiner Stimme einen so müden und gleichzeitig so klinisch distanzierten Klang zu verleihen? Sage umklammerte den Hörer noch fester. „Sie hält sich jetzt sehr gut“, fügte er hinzu, „und ich glaube, ihr Zustand hat sich hinreichend stabilisiert, sodass wir operieren können.“
Sage versuchte zu antworten, aber es gelang ihr nicht. Ihr Mund war staubtrocken, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Schließlich brach sie das herzzerreißende Schweigen und würgte mühsam hervor: „Wann?“ Wenn sie ihn doch sehen könnte … Dann würde sie in seinen Augen lesen, ob er der Mutter Überlebenschancen gab oder nicht, ob er nur der Form halber eine Operation plante und gar nicht mit einem Erfolg rechnete.
„Übermorgen.“
„In zwei Tagen. Und danach …“
„Früher geht es nicht“, fuhr der Arzt fort. „Wir haben sie eben erst stabilisiert. Sie ist bei Bewusstsein, und die Aufregung, die Besucher mit sich brächten, würde sie sicher schwächen. Vor der Operation können Sie sie sehen. Meine Sprechstundenhilfe gibt Ihnen rechtzeitig Bescheid, wann Sie kommen sollen.“
Sage bedankte sich und wollte aufhängen, doch da fragte er in verändertem Tonfall, so als würden ihm die Worte gegen seinen Willen entlockt: „Ist ihre Schwägerin gut nach Hause gekommen?“
Sie starrte über den Tisch hinweg. Offenbar hatte Faye ihn verstanden, denn in das eben noch bleiche Gesicht stieg dunkle Röte. „Ja“, erwiderte Sage, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Möchten Sie mit ihr sprechen?“
Heftig schüttelte Faye den Kopf.
Der zögernde Unterton war aus Dr. Fergusons Stimme verschwunden. Kurz angebunden entgegnete er: „Das ist nicht nötig. Auf Wiedersehen, Miss Danvers.“
Sage legte den Hörer auf die Gabel und musterte ihre Schwägerin abwartend. Doch Faye sagte nur: „Liz wird also operiert. O Gott, hoffentlich wissen sie, was sie tun.“ Bedrückt ging sie zur Tür. „Das hoffe ich auch“, seufzte Sage. In den Schreibtischschubladen lagen noch mehrere ungelesene Tagebücher, und plötzlich drängte es sie, die Lektüre sofort fortzusetzen, als wäre es wichtig, dies vor der Operation ihrer Mutter zu erledigen. Ich habe noch viel Zeit, sagte sie sich.
Morgen Abend würde sie die Tagebücher lesen, während sie auf Daniel Cavanaghs Entscheidung wartete. Vielleicht würde er schon heute anrufen.
Daniel … Seltsam, dass sie erst am Vorabend von seiner Bekanntschaft mit ihrer Mutter erfahren hatte. Andererseits – warum hätte Liz es erzählen sollen? Sie waren während all der Jahre nicht gerade vertraut miteinander oder in Liebe verbunden gewesen. Stattdessen hatte bittere Feindseligkeit zwischen ihnen gestanden, zumindest von Sages Seite aus. Die Kälte, die Liz ihr stets gezeigt und die ihr in der Kindheit so viel Kummer bereitet hatte, stieß Sage ab und ärgerte sie, seit sie erwachsen war. Und doch – die Liz, die ihr in den Tagebüchern begegnete, unterschied sich ganz gewaltig von der Frau, für die sie ihre Mutter immer gehalten hatte. Diese Frau war keineswegs kalt und gefühllos. Warum hatte sie dann diesen Eindruck erweckt?
Wie Sage wusste, gab es Mütter, die ein bestimmtes Kind ablehnten. War sie Liz aus irgendwelchen Gründen nicht liebenswert erschienen? Als Erwachsene hatte sie oft versucht,
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