Schattenjahre (German Edition)
persönlichen Gründen. Sie benutzte ihn, um einem bestimmten Zweck zu dienen. Das war alles.
Rastlos schob sie die Decke beiseite und schwang die langen, schlanken Beine über die Bettkante. Sie musste endlich aufhören, über die Vergangenheit nachzugrübeln, denn es gab wichtigere Dinge zu tun. Der neue Tag war angebrochen.
Faye und Camilla schienen zu streiten. Verwundert blieb Sage auf der Schwelle des Frühstückszimmers stehen.
Das Mädchen sprach in zornigem Ton, Fayes Stimme klang ungewohnt scharf.
„Tut mir leid, Camilla, ich will nicht, dass du mitfährst. Du musst für deine Prüfungen lernen …“
„Und wenn ich mich mal einen Abend nicht in meinen Büchern vergrabe, werde ich durchfallen? Du verbietest mir das nur, weil du nicht willst, dass ich mich amüsiere.“
„Unsinn!“, protestierte Faye.
„Natürlich willst du’s nicht. Sonst würdest du’s mir erlauben. Alle anderen …“
„Alle?“, fiel Faye ihrer Tochter ins Wort. „Ich dachte, ihr nehmt einen Minibus.“
Sage sah, wie ihre Nichte vor Wut rot wurde. „Nun ja – fast alle. Ich verstehe wirklich nicht, was du dagegen hast.“
„Nein? Du sagst, du gehst auf eine Party, scheinst aber nicht zu wissen, wo sie stattfinden wird. Angeblich würdest du mit Schulfreundinnen hinfahren, in einem Minibus, den der Freund eines Mädchens steuern soll. Aber du bist außerstande, mir irgendwelche Namen zu nennen. Tut mir leid, Camilla, ich kann dir einfach nicht gestatten, mit jungen Leuten loszuziehen, wenn ich eure Pläne nicht kenne. Du weißt doch, was auf gewissen Partys passiert.“
„Nicht auf dieser Party, wirklich nicht, Mutter. Hältst du mich für so dumm? Außerdem – warum muss meine Generation für etwas büßen, was eure angefangen hat? Es ist doch allgemein bekannt, was in den sechziger Jahren los war. Drogen – Sex … Und jetzt predigt ihr uns ständig, wie gefährlich Drogen und Promiskuität sind.“
Über Camillas Kopf hinweg warf Faye ihrer Schwägerin einen hilflosen flehenden Blick zu. Sofort stand Sage ihr bei. „Deine Mutter hat recht, Cam. Heutzutage ist es unverantwortlich, mit jemandem wegzufahren, den man kaum kennt. Aber auch du hast recht. Unsere Generation muss für einiges geradestehen. In unserem Leichtsinn glaubten wir, gegen alle Regeln verstoßen zu können. Und jetzt bezahlt eure Generation den Preis für unser sogenanntes Vergnügen. Ich verstehe allerdings, dass du dich mal von deinen Studien ablenken willst.“ Sie setzte sich an den Tisch und übersah den Schmollmund ihrer Nichte.
Seit Mutters Unfall haben wir uns alle verändert, dachte sie. Und wir verändern uns immer weiter. Camilla vielleicht am meisten, weil sie ihrer Gran so nahesteht. Hinter der Widerspenstigkeit des Mädchens spürte Sage kalte Angst. Das Mädchen befand sich in einem Alter, wo man sehr verletzlich war, wo der Verlust eines geliebten Menschen, auf den man stets gebaut hätte, weitreichende Konsequenzen haben und das restliche Leben beeinflussen konnte.
Noch nie hatte sie Mutter und Tochter streiten hören und die beiden sogar um ihr harmonisches Verhältnis beneidet. Nach Liz’ Unfall war die Harmonie verschwunden. Faye wirkte plötzlich reizbar und temperamentvoll – und menschlicher denn je, so als wäre die Seifenblase, die sie stets vor der harten Wirklichkeit geschützt hatte, endlich geplatzt. Sie sieht auch anders aus, dachte Sage. Mehr Farbe in den Wangen, mehr Feuer in den Augen. Und diese nervösen Bewegungen …
„Ich hätte wissen müssen, dass du dich auf Mas Seite stellen würdest“, klagte Camilla und fügte bitter hinzu: „Wenn Gran hier wäre, würde sie’s verstehen …“
„Mach dich nicht lächerlich“, wurde sie von Faye ungeduldig unterbrochen. „Deine Großmutter würde dir diese Party ebenso wenig erlauben wie ich, das müsste dir eigentlich klar sein. Bitte, sei vernünftig. Du solltest dich auf deine Prüfungen konzentrieren.“
„Prüfungen! Prüfungen! Ist das alles, woran du denkst? Alles, was dich interessiert? Ein paar gute Noten, mit denen du vor deinen Freunden angeben kannst? Oh, das vergaß ich – du hast ja keine Freunde, nicht wahr? Aber ich bin nicht so wie du, Mutter. Ich kann mich nicht für den Rest meines Lebens von allen anderen Leuten fernhalten. Ich will leben! Und ich hab’s satt, immer nur zu lernen und zu tun, was man mir befiehlt. Jetzt bin ich fast achtzehn und kein Kind mehr.“
„Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen.“
Sage
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