Schattenjahre (German Edition)
bog in die Straße zu dem Stück Land, das Daniel gekauft hatte, und parkte dort den Porsche – ein auffälliges, scharlachrotes Monstrum, das plötzlich jeden Reiz für sie verloren hatte.
Was versuchte sie mit diesem Schlitten zu beweisen? Dass sie sich so was leisten und einen Sportwagen genauso gut fahren konnte wie ein Mann, dass sie Gefahren und Aufregungen liebte? War sie wirklich noch so unreif? Sie kletterte aus dem Auto, starrte es missbilligend an und beschloss, es durch ein anderes zu ersetzen. Vielleicht durch einen Aston Martin. Sie kicherte. Ein solches Luxusgefährt würde sie sich nie erlauben können. Während sie den Zaunübertritt bewältigte und dem überwucherten Weg zur Old Hall folgte, lächelte sie immer noch.
Das Tor, das zur Zufahrt des halb verfallenen Hauses führte, war mit einem Vorhängeschloss versperrt. Agnes Hazelby, die letzte Bewohnerin – bekannt für ihre exzentrische Sturheit –, hatte es einfach nicht zur Kenntnis genommen, dass die Mauern rings um sie beinahe eingestürzt waren.
Vom Gipfel des Hügels aus, wo Sage innehielt, konnte sie das Gebäude ungehindert betrachten. Der älteste Teil war ungefähr zur gleichen Zeit wie Haus Cottingdean entstanden. Wechselnde Besitzer hatten in der georgianischen und der viktorianischen Ära jeweils einen Anbau hinzugefügt.
Der viktorianische Flügel war von einer Feuersbrunst zerstört worden. Der Mitteltrakt existierte noch, der georgianische Teil, bei dessen Errichtung man vernünftige Bauprinzipien äußerlichen Effekten geopfert hatte, wies tiefe Risse im Mauerwerk auf und versank allmählich unter dem Gewicht der kopflastigen Struktur in unzulänglichen Grundfesten.
Trotzdem strahlte das Haus einen gewissen verwegenen Charme aus, eine zwingende, fast lächerliche Arroganz, die aber Anerkennung und Respekt heischte. Es überraschte Sage nicht, dass Agnes die Bedingung gestellt hatte, der neue Besitzer dürfe das Gebäude nicht abreißen lassen. Aber wenn Daniel sich daran hielt – welchen Wert hätte dann das Land für ihn? Die Kunden, die seine teuren modernen Häuser kauften, würden einen Schandfleck wie die Old Hall nicht in ihrer Nähe dulden.
Warum tat es ihr so weh, dass er gelogen und betrogen hatte? Eigentlich müsste sie sich darüber freuen …
Langsam wanderte sie den Weg hinab, ohne zu wissen, warum oder was sie zu finden hoffte – oder wieso sie überhaupt glaubte, hier wäre etwas zu finden.
Je näher sie dem Haus kam, desto offensichtlicher wurde der Verfall. Die Ferne hatte einen barmherzigen Schleier über die Ruinenmauern gelegt, und Sage war fast froh, als sie den Talboden und die Gartenmauern erreichte, wo ein Gewirr aus Bäumen und Büschen die kahlen Schornsteine verdeckte.
In ihrer Kindheit war sie fasziniert von diesem Gebäude gewesen. Der verwilderte Garten und die zerbröckelnden Wände hatten einen mysteriösen Reiz ausgeübt, ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen gepflegten Heim.
Vielleicht glich sie ihrer Mutter mehr, als es ihr bewusst geworden war. Wie sie den Tagebüchern entnahm, hatte Liz es sehr genossen, die Herausforderung von Cottingdean anzunehmen, das Haus in ihr ureigenstes Reich zu verwandeln. So wie sie aus den Grundelementen des Lebens eine Zukunft für die Familie aufgebaut und aus der alten Spinnerei einen florierenden Betrieb gemacht hatte …
Nur ein Mensch mit Visionen vermochte so etwas zu schaffen. Auch Sage hatte ihre Visionen, ihre besonderen Talente – nicht die ihrer Mutter, aber ihre eigenen. Mittlerweile kannte sie sich selbst, hatte gelernt, sich so zu akzeptieren und zu respektieren, wie sie war, wurde auch von anderen respektiert, lebte in Frieden mit sich selbst. Warum existierte in einem Teil ihres Wesens immer noch das weinende Kind, das gegen die Tür des Vaters trat und Einlass begehrte, seine Liebe verlangte?
Steckte irgendetwas in ihr, das es ihr verwehrte, so geliebt zu werden, wie sie es ersehnte? Oder hatte sie einfach nur zu viel gefordert, zu viel gewollt? Musste die Intensität ihrer Gefühle alle abstoßen, denen sie galten?
Wie auch immer, sie beherrschte längst die Kunst, ihre Emotionen zu bezähmen. Nach der Trennung von Scott hatte sie der gefühlvollen Seite ihrer Natur den Rücken gekehrt und sich auf körperliche Genüsse konzentriert, aber allzu schnell das Interesse daran verloren. Sie war zu der Erkenntnis gezwungen worden, dass es für sie niemals einen Mittelweg geben würde, dass sie sich für die emotionale oder für die
Weitere Kostenlose Bücher