Schattenjahre (German Edition)
herauszufinden, warum die Mutter ihr gegenüber diese kühle Zurückhaltung übte, und schließlich die Überzeugung gewonnen, es müsste sich einfach nur um die Unvereinbarkeit zweier Persönlichkeiten handeln – keinesfalls um das Resultat einer unwillkommenen Schwangerschaft. Die Prozedur der künstlichen Befruchtung bewies eindeutig den Wunsch nach einem zweiten Kind.
Wer hatte den Entschluss dazu gefasst? Der Altersunterschied zwischen David und Sage war ziemlich groß gewesen, also konnte das Bedürfnis, ihn nicht als Einzelkind aufwachsen zu lassen, keine Rolle gespielt haben. Oder hatte Liz auf einen zweiten Sohn gehofft?
Jetzt war es sinnlos, über solche Fragen nachzugrübeln. Vielleicht würden die Tagebücher darauf antworten. Nur eins stand fest – beide Elternteile mussten sich ein zweites Kind gewünscht haben, um den dafür notwendigen Maßnahmen zuzustimmen. Schon seit langer Zeit akzeptierteSage, dass der Vater sie wahrscheinlich ablehnte, weil ihr Leben vom Samen eines anderen Mannes gezeugt worden war. Obwohl er anonym blieb, obwohl es nie einen Kontakt zwischen diesem Mann und Liz gegeben hatte.
Sage sah eine gewisse Ironie, dass gerade sie mit ihrem heißblütigen Temperament ein Produkt der Wissenschaft war, des medizintechnischen Fortschritts.
Während sie gedankenverloren vor sich hinblickte, kam Jenny herein und hob erstaunt die Brauen, weil Sage allein am Tisch saß. „Ist sonst niemand hungrig?“ Die Haushälterin zeigte auf Fayes und Camillas unbenützte Teller.
„Es hat Streit gegeben“, erklärte Sage und stand auf. „Soeben erfuhren wir Neuigkeiten über Mutter. In zwei Tagen wird sie operiert. Der Ausgang des Eingriffs ist völlig ungewiss. Vorher dürfen wir sie noch mal besuchen.“
Zu ihrer Verblüffung zog Jenny sie an sich. Frauen berührten sie nur selten. Ihr kühles und doch sinnliches Flair veranlasste ihre Geschlechtsgenossinnen unnötigerweise, ihr mit Vorsicht zu begegnen. Jetzt, in Jennys rundlichen Armen, verspürte sie das unerwartete Bedürfnis, wie ein Kind, das endlich getröstet wird, in Tränen auszubrechen. „Alles wird gut, Sage, mein Liebes. Sie werden es schon noch sehen. Ihre Mutter ist zu stark, um aufzugeben.“
„Ich hoffe es, Jenny. Nun fahre ich für eine halbe Stunde weg. Wenn jemand anruft …“ Würde Daniel sich in der Zwischenzeit melden oder seine Achtundvierzigstundenfrist bis zur Neige auskosten? „Dann – dann sagen Sie einfach, ich bin bald wieder da.“
Sie fuhr mit dem Porsche ins Dorf, parkte vor dem Postamt, das auch als Laden diente, und kaufte eine Zeitung. In dem kleinen Geschäft herrschte reges Leben und Treiben. Alle Leute schienen über Liz Danvers’ Unfall Bescheid zu wissen und sprachen Sage ihre Anteilnahme aus. Und sie vertraten einen sehr entschiedenen Standpunkt bezüglich der neuen Straße, was sie ihr ebenso wortreich erklärten. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie endlich flüchten konnte.
Quälende Rastlosigkeit – eine Erinnerung an ihre schlimmsten Teenagerlaunen – erfasste sie. Ins Haus, wo Faye und Camilla vermutlich immer noch stritten, mochte sie nicht zurückkehren, sich aber auch nicht allzu weit davon entfernen. Warum nicht? Weil Daniel auftauchen könnte? Und wenn? Es würde bedeuten, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Und was noch? Wenn sie einen Mann wie ihn erpresste, durfte sie nicht erwarten, seine Abneigung gegen sie, seine Verachtung und der Ärger über sein eigenes sexuelles Verlangen nach ihr würden sich plötzlich wunderbarerweise in Respekt verwandeln. Aber was wollte sie von ihm?
Nichts, dachte sie erbost, stieg in den Porsche und startete ruckartig den Motor. Sie wollte gar nichts von ihm. Nicht einmal die Genugtuung, die Erinnerung an die Nacht auszulöschen, als er sie zurückgewiesen hatte – nicht einmal die Befriedigung, jene Reaktion durch eine andere ersetzt zu sehen.
Ihre Nerven spannten sich an, ein wilder Puls begann in ihrem Hals zu pochen. Warum, warum, warum glaubte sie, Daniel fände sie begehrenswert? Und wieso wirkte sich dieser Gedanke so unmittelbar auf ihre Sinne aus?
Zynisch beantwortete sie diese Frage: Wenn du das immer noch nicht weißt, mein Mädchen, dann hast du im Lauf der Jahre nicht viel gelernt. Ja, die Antwort kannte sie, aber sie mochte sich nicht mit den Gründen auseinandersetzen, die dahintersteckten.
Vergiss Daniel Cavanagh, ermahnte sie sich. Trotzdem fuhr sie in nördlicher statt in südlicher Richtung aus dem Dorf,
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