Schattenjahre (German Edition)
physische Askese entscheiden musste, zwischen belanglosen Freundschaften und der Erfüllung wahrer, tiefer Liebe. Und wie gefährlich eine solche Liebe sein konnte, wusste sie seit dem Debakel mit Scott.
Sie fand ein Gatter in der Mauer und stieß es auf. Das morsche Holz war teilweise zersplittert, der Garten dahinter ein Gestrüpp aus Büschen und kniehohem Unkraut. Ein magischer Schleier des Vergessens schien darüberzuliegen wie über Dornröschens Schloss. Bitter lächelte Sage, während sie sich einen Weg durch das Dickicht bahnte. Daniel war kein Prinz, der das Haus liebevoll zum Leben erwecken würde. Er wollte es vollends zerstören.
Jenseits der Sträucher und Bäume erstreckte sich eine üppig wuchernde Wiese, die vielleicht einmal ein makellos gepflegter Rasen gewesen war. Die langen Halme mischten sich mit wilden Blumen und Unkraut.
Das feuchte Gras durchnässte Sages Jeans, doch nachdem sie so weit vorgedrungen war,wollte sie nicht umkehren. Dornengestrüpp zerkratzte ihre Arme, Brennnesseln röteten ihre Haut. Immer wieder verfingen sich überhängende Zweige in ihrem Haar, bis sie es ungeduldig mit einem Gummiband, das sie in ihrer Hosentasche gefunden hatte, zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
Sie näherte sich dem Haus von der Seite her, wo die von vielerlei Pflanzen bewachsenen, schwarz verkohlten Reste des viktorianischen Flügels unheimlich in dünnen Morgennebelschleiern gähnten.
Im Dorf wurde behauptet, die hilfsbereiten Löschtrupps seien nach dem Brand zurückgekommen, um unversehrte Ziegel in Handkarren wegzuschaffen. Danach seien mehrere Cottages in Cottingdean mit Anbauten versehen worden.
Der Anblick dieser Ruine stimmte Sage immer traurig, und sie ging rasch vorbei, umrundete die Hausecke und betrat den ummauerten Hof an der Rückfront.
Auch hier wuchs Unkraut zwischen dem Kopfsteinpflaster. Scheibenlose Fenster klafften in der Hauswand und in den Mauern der Nebengebäude. Irgendjemand hatte ein großes Vorhängeschloss an der hölzernen Hintertür angebracht. Eine Zeit lang stand Sage davor, dann zuckte sie die Achseln. Warum sie das Haus betreten wollte, wusste sie nicht. Irgendetwas hatte sie an diesem Morgen hierher getrieben – ein Instinkt, ein Bedürfnis. Und sie beabsichtigte keineswegs, sich von Daniel Cavanaghs Vorhängeschlössern aufhalten zu lassen.
Es fiel ihr relativ leicht, durch ein Fenster hineinzuklettern. Sie musste sich zwar etwas mühsam durch die schmale Öffnung zwängen, aber mit ein paar schlängelnden Bewegungen schaffte sie es, schnitt eine Grimasse angesichts ihrer staubigen Jeans und sprang auf den unebenen Steinboden der Waschküche.
Das Haus roch feucht und modrig. Ein alter Sessel mit klaffenden Löchern im zerschlissenen Bezug, aus denen die Füllung quoll, unterstrich die desolate Atmosphäre. Während Sage den Raum durchquerte, verschloss sie ihre Ohren vor quiekenden, raschelnden, scharrenden Geräuschen.
Zu Agnes’ Lebzeiten war sie oft hier gewesen. Die Mutter hatte ein nachbarliches Auge auf die alte Frau geworfen. Und Sage, fasziniert von dem alten Haus und seiner Besitzerin, hatte diese Besuche stets genossen.
Damals waren nur ein Schlafzimmer, die Küche und ein kleiner Salon bewohnt worden, die restlichen Räume bereits irreparabel verfallen, ihre Möbel mit großen Laken abgedeckt gewesen. Auf Sage hatten sie wie Leichentücher gewirkt, weiß und geisterhaft, erfüllt von tiefer Traurigkeit.
Nun ging sie in die Küche und sah, dass fast alle Möbel verschwunden waren. Zweifellos entsprach es Daniels Ordnungssinn, die Einrichtung des Hauses entfernen zu lassen, ehe er ihm den Todesstoß versetzte.
Im Tudor-Trakt führte ein schmaler Flur zur „Dienstbotentreppe“, wie Agnes sie genannt hatte. Die Haupthalle lag im georgianischen Teil des Gebäudes, ein hübscher ovaler Raum, von wo eine Marmortreppe mit schmiedeeisernem Geländer durch alle vier oberen Stockwerke zu schweben schien. Sage erinnerte sich, wie entzückt sie gewesen war, wenn sie dort als Kind nach oben geschaut und das Deckengemälde in dem zierlichen Stuckrahmen bewundert hatte – laut ihrer Mutter den griechischen Gott Zeus, der durch Gewitterwolken zur Erde herabblickte. Während Sage durch Räume voller Spinnweben, Staub und schaler feuchter Luft schlenderte, versuchte sie die verräterischen Flecken an den Wänden, den beschädigten Stuck und die moderne Täfelung zu übersehen. Sie fragte sich, ob das Deckengemälde immer noch existierte.
Ja, da war es.
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