Schattenjahre (German Edition)
unterdrückte einen Seufzer. Merkte Faye denn nicht, wie sie einen immer größeren Keil zwischen sich und ihr Kind schob? Spürte sie nicht, dass hinter dieser Rebellion wahrscheinlich die Angst vor dem Verlust der Großmutter steckte, dass dieses Streben nach Unabhängigkeit, der wilde Teenagerzorn, vermutlich von dieser Furcht angestachelt wurde?
Bestürzt zuckte Sage zusammen, als Camilla aufsprang und mit tränenerstickter Stimme schrie: „Ich hätte es mir denken können – du verstehst es nicht! Aber was immer du sagst – ich bin keinKind mehr. Und ich habe das Recht, selbst zu entscheiden, wie ich leben will. Du wirst mir nicht mehr dreinreden!“ Sie stürmte zur Tür.
Auch Faye erhob sich. „Komm zurück, Camilla!“ Rote Flecken glühten über ihren Wangenknochen, während sie ihrer Tochter nachstarrte.
„Lass sie gehen“, riet Sage.
„Ich begreife einfach nicht, was in sie gefahren ist. Sie war immer so vernünftig …“
„Ist das nicht gefährlich?“, fragte Sage trocken. „Ein vernünftiger Teenager … Vielleicht ein Zeichen von Rastlosigkeit und Turbulenzen unter der Oberfläche.“
„Du meinst, Camilla wurde unterjocht?“
„Nein. Ich meine, sie benimmt sich so, wie es zu erwarten war. Deine Tochter ist jung und verängstigt. Die einzige Person außer dir, die ihr zuhörte, die ihr Ratschläge gab, auf die sie sich verlassen konnte, ist plötzlich selbst verwundbar. Jetzt liegt Camilla sicher auf ihrem Bett, weint sich die Augen aus und versteht nicht, warum sie so wütend auf ihre Gran ist, die einen Unfall erlitten hat. Wegen dieses Zorns fühlt sie sich schuldig. Wäre es wirklich so schlimm, wenn sie auf diese Party ginge? Sie braucht mal ein bisschen Ablenkung, das würde ihr guttun.“
„Unmöglich! Sie kann oder will mir nicht sagen, wer das Fest organisiert und wo es stattfinden soll. Nur ganz vage hat sie erwähnt, ein paar Schulfreundinnen würden dabei sein – und irgendwelche Jungs, die sie kennen.“
„Hm, das klingt ziemlich verdächtig. Und wenn wir hier eine Party geben, um die Nervosität vor den Prüfungen etwas zu lockern? Wir haben genug Platz, und Jenny hilft sicher gern beim Büfett, und so weiter. Vielleicht wäre es sogar eine gute Idee, wenn Camilla und ihre Freundinnen selbst fürs Essen und für die Getränke sorgen würden. Dann kann sie endlich an was anderes denken als an ihre Examen und Gran …“
„Wir sollen hier feiern – jetzt, wo Liz schwer verletzt im Krankenhaus liegt?“
Fayes sichtliches Entsetzen irritierte Sage. „Um Himmels willen, welchen Unterschied würde das für Mutter machen?“, erwiderte sie zynisch. „Ich schlage nur eine wirksame Ablenkungstaktik vor. Damit könnten wir Camilla dran hindern, sich kopfüber in eine Rebellion zu stürzen, die zu gefährlicheren Konsequenzen führen könnte als bloß zu Tränenausbrüchen.“
Nun wurde Faye blass. „Deutest du etwa an, sie würde meine Wünsche missachten und hinter meinem Rücken zu dieser Party gehen?“ Grimmig fragte sich Sage, ob Faye wirklich so naiv war. Durch ihre strikte Weigerung, einen Mittelweg zu finden, den sie gemeinsam mit Camilla gehen könnte, würde sie sich ihrer Tochter völlig entfremden. Sah sie das nicht ein? Wenn sie der Achtzehnjährigen das Recht absprach, ihr Leben zumindest in einigen Belangen selbst zu bestimmen, so war das eine Herausforderung, die kein normaler Teenager ignorieren würde.
„Aber so hat sie sich noch nie verhalten“, protestierte Faye, ernsthaft verstört. „Sie war immer so vernünftig …“ Sie runzelte die Stirn, als ihre Schwägerin schwieg. „Du findest mich unfair, was?“, fuhr sie bitter fort. „Ich versuche doch nur, sie zu schützen und …“
Hastig verstummte sie, aber nicht, ehe Sage den leidenschaftlichen Unterton in der atemlosen Stimme gehört hatte. „Ich will dich nicht kritisieren, Faye. Gott weiß, wie viele Fehler ich an deiner Stelle gemacht hätte. Und ich verstehe auch, was in dir vorgeht. Aber du kannst sie nicht immer beschützen – nicht, ohne sie so verletzlich zu machen, dass sie, sobald sie mit der Realität konfrontiert wird, in Gefahr gerät. Sie wäre wie ein Kind, das in einer keimfreien Umgebung aufwächst, deshalb äußerst anfällig für Infektionen ist und an einer einfachen Erkältung sterben könnte. Ein Mädchen in Camillas Alter möchte ausgehen und Spaß haben. Das ist nur natürlich. Und wenn du ihr erlaubst, sich in der sicheren Umgebung dieses Hauses zu amüsieren,
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