Schattenjahre (German Edition)
ihn verlasse …“
„Dann würde seine Welt zusammenbrechen. Aber was soll aus deiner Welt werden – aus dir? Ich glaube, du hast die Bedürfnisse anderer stets vor deine eigenen gestellt. Und nun läufst du Gefahr, deine eigenen zu vergessen.“
„Was schlägst du vor? Soll ich mich von Edward trennen und mir einen Liebhaber nehmen?“ Sie seufzte bitter. „Wie könnte ich das? Selbst wenn ich es wollte – es wäre unmöglich. Ich muss an David denken – und auch an Edward. Diese düsteren Stimmungen machen dem Armen schwer zu schaffen, und er kann sie nicht bekämpfen. Was er manchmal sagt und tut, meint er nicht ernst …“ Krampfhaft schluckte sie. „Er braucht mich, Ian, und solange er mich braucht, will ich für ihn da sein.“
„Also gut. Aber vergiss nicht – auch ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst. Und ich beabsichtige immer noch, ihn zu einem Aufenthalt in einem Rekonvaleszentenheim zu überreden. Wenigstens für eine Woche.“
Während der Heimfahrt überlegte Ian, ob er Liz vielleicht mehr geschadet als geholfen hatte. Wäre es nicht barmherziger gewesen, sie im Glauben zu lassen, sie hätte keine sexuellen Bedürfnisse? Stattdessen hatte er ihr zu verstehen gegeben, sie sei das Opfer eines eigensüchtigen Mannes, der ihr nicht gestattete, ihre Sinnlichkeit allmählich zu entdecken und weiterzuentwickeln. Im Alter von siebzehn Jahren war ihr Körper noch gewachsen, ganz zu schweigen von ihren Emotionen und ihrem Verstand.
Als Ian gegangen war, stand Liz noch lange am Wohnzimmerfenster und starrte in den Garten. Stimmte es, was er von Kit behauptet hatte? Und selbst wenn – was spielte das jetzt für eine Rolle? Sie war an Edward gebunden, wollte ihre Pflicht erfüllen, und sie liebte ihn – vielleicht nicht als Mann und gewiss nicht als Liebhaber. Doch er bedeutete ihr sehr viel.
Es bedrückte sie, dass der Arzt Edwards Neigung zu Gewaltaktionen erkannt hatte. Sich diese Neigung bewusst zu machen fiel selbst ihrem Mann schwer, denn wenn er sich in sanfter, vernünftiger Stimmung befand, schien es ihn selbst zu bestürzen, wie empfindlich er die eheliche Gemeinschaft mit seinen Depressionen störte.
Niemals würde der sensitive Edward jemandem absichtlich wehtun. Aber wie bei allen Menschen gab es auch in seinem Wesen eine dunkle Seite, die nun allmählich von Schmerzen und seelischer Qual an die Oberfläche geholt wurde. Seufzend eilte sie zur Tür. Ihr Mann würde sich schon fragen, wo sie so lange blieb.
Nach Ians Besuch besserte sich die Situation für eine Weile. Edward litt nicht mehr so oft unter seinen Depressionen, und Liz konnte mit ihm über ihre geschäftlichen Pläne sprechen, ohne dass er die Beherrschung verlor und ihr vorwarf, die Spinnerei sei ihr wichtiger als ihr Ehemann und David. Ians behutsame Bemerkungen über ihre Sexualität verbannte sie aus ihren Gedanken. Es wäre auch sinnlos gewesen, darüber nachzugrübeln. Die Renovierung der Spinnerei nahm ihren Lauf. Liz las die Wirtschaftszeitschriften nicht mehr heimlich, diskutierte mit Edward über einzelne Artikel, ignorierte es einfach, wenn er sich in seinen Schmollwinkel zurückzog, und versuchte ihnfür ihre Aktivitäten zu interessieren. Eifrig bemühte sie sich, ihn an allen Phasen der Vorgänge teilhaben zu lassen.
Sie brauchte einen erfahrenen Mann, der die Spinnerei leiten und ungelernte Arbeitskräfte ausbilden sollte – jemanden, der genau verstand, was sie anstrebte. Einen solchen Manager würde sie am ehesten in den Spinnereien von Lancashire oder an der schottischen Grenze finden. Nach einer Unterredung mit Edward, der nun die Spinnerei widerstrebend als Realität im Eheleben akzeptierte, und nach einem Treffen mit ihren Geldgebern von der Handelsbank setzte sie eine Annonce in mehrere Lokalzeitungen.
In Edward weckten die zahlreichen Antworten neue Zweifel. Die englische Textilindustrie steckte in einer Flaute, und es mangelte an Arbeitsplätzen. Im Ausland wurden viel billigere Kleidungsstücke produziert. Wie wollte Liz die teureren Wollstoffe verkaufen, die sie herstellen würde?
„Im Ausland“, erklärte sie, „in Amerika, überall, wo die Leute genug Geld haben, um sich erstklassige Sachen zu leisten.“
In verblüfftem Schweigen starrte er sie an. Was war aus dem schüchternen, verängstigten Kind geworden, das so abhängig von ihm gewesen war? Jetzt brauchte er Liz viel dringender als sie ihn, und diese Erkenntnis riss die Wunden, die sich zu heilen weigerten, noch mehr
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