Schattenjahre (German Edition)
auf.
Sage kannte die Geschichte der Fabriken und der erfolgreichen Wollstoffe. Nicht Liz hatte ihr davon erzählt, aber das Personal, das seit der Wiedereröffnung des Unternehmens dort arbeitete. Da sie über das alles hinreichend informiert war, ließ sie bei der Lektüre des Tagebuchs einzelne Abschnitte aus, denn sie konnte es kaum erwarten, zum Zeitpunkt ihrer Zeugung zu kommen.
Bis jetzt hatte sie in den Aufzeichnungen nichts gefunden, was auf Liz’ Wunsch nach einem zweiten Kind schließen ließe. Man sollte glauben, mit ihrem schulpflichtigen Sohn, ihrem invaliden Ehemann und ihrem mühsamen geschäftlichen Aufstieg wäre sie hinreichend beschäftigt gewesen. Trotzdem musste sie sich nach einem zweiten Baby gesehnt haben, sonst hätte sie sich wohl kaum als menschliches Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. In jener Zeit hatte man künstliche Befruchtung, eine relativ neue wissenschaftliche Errungenschaft, nur äußerst selten vorgenommen und gewiss für Frauen mit einer tief verwurzelten, ausgeprägten Sehnsucht nach einem Kind reserviert.
Während Sage einige Eintragungen über Davids Sommerferien und seine schulischen Fortschritte las, läutete das Telefon. Sofort stieg Panik in ihr auf. Noch ehe sie den Hörer abhob, wusste sie, dass Daniel sich melden würde. Und als dann seine Stimme in ihr Ohr drang, drohte ihr kaltes Entsetzen die Sprache zu verschlagen. Entsetzen – und Ärger. Warum klangen seine Worte so gelassen und unbefangen – wo doch ihr ganzes Nervensystem, von ihren Gefühlen ganz zu schweigen, immer noch unter dem Eindruck der katastrophalen Szene in der Old Hall stand?
Krampfhaft konzentrierte sie sich auf den Sinn seiner Äußerungen, nicht auf die Wirkung, die seine tiefe Stimme in ihrem Körper hervorrief. Sie unterbrach seine höfliche Frage nach dem Befinden ihrer Mutter in schärferem Ton als beabsichtigt, aus reinem Selbsterhaltungstrieb. „Nun, deine Entscheidung, Daniel?“
Eine kleine Pause entstand, und ihr Herzschlag beschleunigte sich, pumpte Adrenalin in ihre Adern.
„Leider konnte ich noch keinen Entschluss fassen. Ich brauche mehr Zeit – mindestens noch mal achtundvierzig Stunden …“
Noch mal achtundvierzig Stunden – dann würde ihre Mutter bereits operiert sein, und es mochte keine Rolle mehr spielen, wie er sich entschied.
„Bist du noch da, Sage?“
Was sie aus seiner Stimme heraushörte, konnte unmöglich Besorgnis sein. Sie bekämpfte ihre Schwäche und erwiderte bissig: „Ja, ich bin noch da. Ich habe keine leeren Drohungen ausgestoßen. Weißt du das nicht?“
„Doch. Du vergisst, dass ich dich kenne.“
Sie wollte ihm widersprechen, aber es gelang ihr nicht. Und so begnügte sie sich mit der eisigen Antwort: „Du kanntest mich, Daniel. Und das ist schon sehr lange her.“
Darauf ging er nicht ein. Er sagte nur gleichmütig: „Achtundvierzig Stunden, Sage, dann meldeich mich wieder. Es handelt sich nicht nur um mich allein, ich muss auch den Aufsichtsrat berücksichtigen …“
„Okay“, stimmte sie ungeduldig zu, „achtundvierzig Stunden.“
Als sie auflegte, fragte sie sich, ob es klug gewesen war, seine Forderung zu erfüllen, ob dadurch der Effekt ihres Überraschungsangriffs beeinträchtigt wurde.
In seinem Büro legte Daniel den Hörer auf die Gabel. Sage hatte schneller als erwartet nachgegeben. Wie er sich ironisch eingestand, fühlte er sich dadurch irgendwie betrogen, so als hätte er sich auf eine längere Diskussion gefreut.
Seine eigene Schwäche erschien ihm wie ein Gespenst, das ihn verfolgte. Gestern … Es war sinnlos, darüber nachzudenken. Nur zu deutlich hatte Sage bekundet, was sie von den explosiven sexuellen Schwingungen hielt, die zwischen ihnen existierten. Und wenn er ehrlich sein wollte, durfte er ihr das nicht verübeln.
An ihrer Stelle hätte er genauso reagiert und seine wilden sexuellen Bedürfnisse gehasst, weil sie durch keinerlei emotionale Bindung gemildert wurden. An Sages Stelle …
Und seine eigenen Gefühle? Grimmig lächelte er vor sich hin. Für ihn stand es fest, wie sie sich wiederholen würde, wäre er dumm genug, ihr die Wahrheit zu verraten. Er wusste, wie sie die armen Idioten zu behandeln pflegte, die ihr Liebesgeständnisse machten. Und dieser kleinen Schar von Märtyrern wollte er sich nicht anschließen. Die Jahre hatten ihn an seine Liebe zu Sage gewöhnt, an einen qualvollen Zustand, den er gern beendet hätte. Aber eine Krankheit, die nicht geheilt werden kann, muss man
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