Schattenjahre (German Edition)
… Ohne das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes, ohne beim Gedanken an seine Frau Neid zu empfinden, ohne quälende Sehnsucht …
Sheila Holmes sagte zu ihrem Mann, Liz’ neues Unternehmen mache wirklich großartige Fortschritte. Da nickte er und meinte ein bisschen ironisch, es sei doch erstaunlich, was ein Mensch leisten könne, wenn er kein natürliches Ventil für seine Energien finde.
Er mochte Liz und bewunderte sie, konnte sich aber den chauvinistischen Gedanken nicht verkneifen, eine solche Frau müsste ihrer Vitalität einen anderen Ausdruck verleihen.
Auf der Fahrt zum Internat nahm sie sich viel Zeit, genoss das seltene Glück, allein mit ihrem Sohn zu sein. In einem komfortablen Hotel am Fluss machten sie Rast und aßen zu Mittag.
Nachdem sie Daniel ins Internat begleitet hatte, musste sie sich im Auto zu ihrer Verblüffung die Nase putzen und Tränen aus ihren Augen wischen. Sie hatte sich nicht als besonders mütterliche Frau betrachtet. Natürlich bedeutete David ihr sehr viel, aber es war ja auch leicht, ihn zu lieben. Jeder liebte ihn. Und sie liebte ihn gewiss nicht mehr mit der gleichen wilden Intensität wie in der Schwangerschaft, als diese Gefühle eigentlich eher seinem Vater gegolten hatten.
Jene jugendliche anbetende Liebe hatte sich längst in kühle Abneigung verwandelt, in Erleichterung, weil Kit aus ihrem Leben verschwunden war. Wenn der Sohn Edward näherstand als ihr, dann vielleicht wegen seiner Schulbildung oder einfach nur, weil die beiden zum männlichen Geschlecht zählten. Es gefiel ihr, die zwei beisammen zu sehen, zu wissen, dass ihr Mann wegen der Herkunft des Jungen keine Ressentiments gegen ihn hegte und ihn innig liebte.
An diesem Tag trug sie ihr Haar offen, denn am Morgen hatte sie aus Angst vor einer Verspätung darauf verzichtet, es hochzustecken. Edward missfiel der ordentliche Haarknoten, den sie seit der Wiedereröffnung der Spinnerei und der Gründung der angeschlossenen Weberei bevorzugte, aber sie fand, diese Frisur würde ihr mehr Autorität verleihen, ein geschäftsmäßiges Aussehen.
Weil sie wusste, wie wichtig solche Dinge für den männlichen Stolz waren, trug sie ein neues Kleid aus weiß und gelb gemustertem Baumwollpikee. Sie hatte es selbst genäht, nach einem Schnitt aus der Vogue, der Kopie eines Pariser Modells. Das eng anliegende Oberteil mit dem V-Ausschnitt und der Glockenrock betonten ihre schmale Taille. Für seltene offizielle Anlässe hatte sie sich einen modischen weißen Hut gekauft, ebenfalls aus Baumwollstoff, und ellbogenlange, weiße Handschuhe, eine gewisse Extravaganz. Diese Accessoires trug sie jetzt nicht, hatte sie aber zu Ehren von Davids Elterntag angelegt und von einem seiner Klassenkameraden das Kompliment erhalten, sie sehe „einfach umwerfend“ aus.
Sie lächelte. Wie bezeichnend für ihre Lebensweise, dass sie sich über das Kompliment eines Schuljungen freute … Aber was sollte sie auch mit Komplimenten von Männern anfangen? Sie war Edwards Frau, Davids Mutter, mit ihren täglichen Pflichten vollauf beschäftigt und zufrieden,weil sich die Dinge so gut entwickelten. Für all das bezahlte sie nur einen geringen Preis, wenn sie auf erotische Freuden verzichtete. Außerdem verspürte sie immer noch Ekel, wenn ein Mann aggressive sexuelle Annäherungsversuche unternahm, was zum Glück nur selten geschah. So etwas jagte ihr Angst ein und weckte unangenehme Erinnerungen an Kit.
Manchmal, wenn sie die Umarmung eines jungen Paares beobachtete oder zärtliche Blicke sah, die zwei Liebende wechselten, fühlte sie eine schmerzhafte Leere in ihrem Innern. Aber sie erlaubte sich nicht, über solche Emotionen nachzugrübeln. Das wäre auch völlig sinnlos gewesen.
Edward brauchte sie, und David brauchte seine Eltern – viel dringender als sie selbst eine kurze, unbedeutende intime Begegnung mit einem Mann.
Während Liz durch das Dorf fuhr, ging die Wärme des Septembertags in den Dunst des Spätnachmittags über, der wie eine goldene, wohltätige Wolke herabsank. Sie bemerkte, wie schnell die Brombeeren reiften, schwarz und saftig, und sie bedauerte, dass sie ihr einziges gutes Kleid trug. Deshalb konnte sie nicht anhalten, um ein paar Beeren zu pflücken. Die hätte sie gern mit ein paar Äpfeln aus der Frühernte gemischt und für Edward einen Streuselkuchen gebacken.
Auf der Zufahrt von Haus Cottingdean parkte ein fremdes Auto, ein schimmernder neuer Ford, neben dem Liz‘ alter Morris schäbiger wirkte denn je. Sie
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