Schattenjahre (German Edition)
eben ertragen. Wie ein Rheumatiker erlebte er Tage, wo sich der Schmerz aushalten ließ, und andere, wo der Liebeskummer alles andere auszuschalten drohte. Doch er hatte gelernt, sich damit abzufinden, obwohl der Lernprozess mühsam gewesen war.
Achtundvierzig Stunden. Wenn die Gerüchte stimmten, die er an diesem Morgen gehört hatte, würde Sages Erpressungsversuch nach Ablauf dieser Frist belanglos sein.
Ja, er liebte sie – mit einer Intensität, die weit über sexuelle Wünsche hinausging. Vor wie vielen Jahren hatte er gemerkt, dass sie nicht nur sinnliches Verlangen ihn ihm weckte? Als Scott im Krankenhaus gelegen hatte? Oder schon vorher? Vielleicht bei der allerersten Begegnung?
Nun, trotz seiner privaten Probleme musste er immer noch eine Firma leiten. Und er war kein Teenager, der hilflos herumsaß und von einer vermutlich unerreichbaren Frau träumte.
Wie albern – vorhin bei dem Telefongespräch hatte er sich tatsächlich die Kinder vorgestellt, die sie bekommen könnten. Er schüttelte den Kopf über seine eigene Dummheit und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Papiere, die vor ihm lagen.
Nach dem Telefonat dauerte es fast eine Stunde, bis Sage sich wieder auf das Tagebuch zu konzentrieren vermochte. Während dieser Zeit war sie unter dem Vorwand, eine Tasse Kaffee zu benötigen, rastlos in die Küche geeilt, dann in die Bibliothek zurückgekehrt, von innerem Aufruhr erfüllt. Was geschah mit ihr? Warum gestattete sie sich ein solches Verhalten? Sie benahm sich wie – wie …
Wie eine hoffnungslos verliebte Frau.
Unmöglich … Sie erschauerte und schloss die Augen, als sie diese betrügerischen Gedanken bekämpfte.
Eine verliebte Frau – lächerlich. Sexuelle Leidenschaft – das war alles, was sie für Daniel empfand – das einzige Gefühl, das sie einem Mann entgegengebracht hatte seit …
Nervös setzte sie sich an den Schreibtisch und griff nach dem Tagebuch.
„Es war ein erfreulicher Sommer …“
Sie machten sich einen Namen als Lieferanten erstklassiger Schafböcke, und unter der Leitung des neuen Managers begannen die Spinnerei und die angeschlossene Weberei Wollstoffe von jener Qualität zu produzieren, die Liz vorschwebte.
In der Schule kam David gut voran, und wenn Liz sich auch manchmal sorgte, weil er so ein stiller Einzelgänger war, schien er glücklich zu sein. Sogar Edwards Befinden hatte sich ein wenig verbessert, obwohl seine besitzergreifende Art sie immer noch belastete. Ian Holmes verordnete ihm ein Medikament, das die Schmerzen offenbar nachhaltiger linderte als die vorangegangenen Präparate. Die schönen, warmen Nachmittage verbrachte der Patient im Garten. In der frischenLuft, im Sonnenschein verlor seine Haut die kränkliche Blässe. Liz’ innere Anspannung ließ nach. Diese Nervenstrapazen hatten sich zu einem vertrauten Teil ihres Lebens entwickelt, und als sie allmählich schwanden, überlegte sie zunächst verblüfft, was mit ihr passierte.
Es war wunderbar, nicht mehr auf jedes Wort achten zu müssen, das sie zu Edward sagte, nicht mehr ängstlich abzuwarten, wie er auf ihre Aktivitäten reagierte, und nicht mehr krampfhaft alles zu vermeiden, was ihn aufregen könnte. Was die Fabriken betraf, vertraute er ihr, aber wie sie wusste, peinigte ihn seine Eifersucht immer noch.
Jetzt, wo die beiden Betriebe erste kleine Erfolge erzielten, wurde Liz von allen früheren Gegnern ihrer geschäftlichen Unternehmungen mit begeistertem Lob überschüttet. Inzwischen waren einige Jahre vergangen, seit sie Edward die widerwillige Zustimmung zu ihrem Vorhaben abgerungen hatte. Für das nächste Jahr plante sie – was ihr Mann noch nicht wusste – ihren ersten Angriff auf den wichtigen amerikanischen Markt.
Heimlich hatte sie sorgfältige Nachforschungen angestellt, um ihrer Sache sicher zu sein, ehe sie Edward damit konfrontierte. Nun brauchte sie einen Repräsentanten, der sich mit amerikanischen Geschäftsgepflogenheiten auskannte, dem sie trauen konnte, der genauso an ihre Produkte glaubte wie sie selbst. Sie seufzte, während sie im Garten die Rosenbüsche beschnitt. Am liebsten würde sie selbst nach Amerika reisen, aber das kam natürlich nicht infrage.
Zufrieden und gelassen brach sie am Ende der langen Sommerferien auf, um David ins Internat zurückzubringen. Sie spürte, dass die problematischen Zeiten zumindest vorerst beendet waren. Nun konnte sie sogar Vics seltene Briefe lesen, ohne sich die wehmütige Frage zu stellen, was gewesen wäre, wenn
Weitere Kostenlose Bücher